Frau + Karbon = Randonneur(in) - aber nicht nur ...

Three Peaks Bike Race 2020- Der Schmerz vergeht, der Stolz bleibt

„Plopp …!“, 3:18 Uhr am Morgen – ich sitze in Sekundenschnelle kerzengerade in meinem Daunenbett auf der Luftmatratze. Was gibt es hier im französischen Bergwald wohl für wilde Tiere? Bären? Wölfe? Wildschweine? Was war das gerade, was auf meinen Biwaksack geploppt ist?

Und so kam ich in diese Situation …

Aber zuerst mein Video …

2019 sind die Mühen des TPBR von Wien nach Barcelona schnell vergessen, Hermann und ich sind uns einig, wir machen wieder als Team bei der TPBR 2020 mit, diesmal mit Ziel Nizza – ich wollte ja schon lange ein Foto von „#ILoveNICE“.

Kontrollpunkte des TPBR2020:
CP1 Großglockner, CP2 Col Sanetsch und CP3 der Mont Ventoux.
Dazwischen gab es für uns jede Menge weiterer Berge, um an das ersehnte Ziel Nizza zu gelangen. Das Durchfahren der Po-Ebene –da waren Hermann und ich einig- kam für uns nicht in Frage, und wir entschieden uns so für landschaftliche Schönheit versus weniger Höhenmeter.

Tag 1 (450km/ 5850Hm – CP1 Großglockner)
Start am Schloss Schönbrunn. Plan ist, vielleicht die Nacht durchzuradeln, aber da wir dieses Mal mit dem vollen Biwakprogramm im Gepäck radeln, lulle ich mich mit dem Gedanken ein, unterwegs doch jederzeit mal einen Powernapp einlegen zu können, wenn der Sekundenschlaf droht.
Hügelig geht die Fahrt rasch vonstatten durch das Wiener Vorland und weiter bis Amstetten. Nun fahren wir es nach einem leckeren Abendessen in einem Dörfchen in die Dämmerung hinein. Es wird bergig und nicht nur das mit der Dunkelheit zieht feuchte kalte Luft auf. Biwak? Nicht auszudenken wie ungemütlich das wäre, bei den Nebeln, die aus der Enns heraufwabbern. Mit der Nacht kommen die Zweifel. Kälte … ich habe nicht mal genug zum Anziehen mit im Falle eines Stillstandes. Wie viele Kilometer liegen noch vor uns … Ich bin müde … die fiesen Gedanken lassen mich nicht mehr los. Unsere Fahrt führt in den nächsten Tagen nahe der Heimat vorbei … da könnte ich doch … ja, da werde ich wohl …
Liezen, Schladming und langsam wird es Tag. Wir finden am heutigen Sonntagmorgen eine Bäckerei. Die fiesen Gedanken verfliegen. Zeit für Frühstück. Wir lassen uns häuslich nieder. So schnell bringt mich hier niemand weg. Ich wähle das japanisch anmutende „Hiata-Frühstück“. Was? Ahhhaaahhaaa – nicht japanisch? Es ist ein deftiges Hüter-Frühstück, mein Hirn ist wohl nach „durchzechter“ Nacht noch umnebelt.


Inmitten der Leckereien werfe ich einen Blick aus dem Fenster. Die Nackenhaare stellen sich mir leicht auf: bleierne schwere Wolken Richtung Südwesten. Da müssen wir hin … Dort steht er – der Großglockner, Kontrollpunkt 1. So früh am Morgen womöglich schon Regen oder noch schlimmer Gewitter? Auf einen Schlag schmeckt mir das Frühstück nicht mehr. Schnell beenden wir den Festschmaus. Weiter!
Am Fuße der Großglocknerstraße beginnt es auch schon zu regnen. Regenhose an und weiter. An eine schnelle Fahrt ist hier nicht zu denken. Ständig Steigungen über 11% lässt den Beinen nie auch mal die geringste Chance sich etwas auszuruhen. Meine Regenhose engt ein und genau so wird der Grundstein für die Qualen der nächsten Tage gelegt: zwei große schmerzende blaue Flecken unter den Gesäßknochen. Der Regen lässt nach, ich entledige mich des Regengewandes, aber zu spät – spüre ich.

Den Berg meistern wir, ich schaue immer wieder panisch nach oben, denn Gewitter wo auch immer, aber besonders in den Bergen fürchte ich wie nichts sonst. Michael, der Veranstalter, hatte sich was fieses ausgedacht: Die letzten drei Kilometer auf grobem Kopfsteinpflaster, unmöglich steil. Zumindest kommt die Sonne raus. Gerettet. Der Zucchini-Karotten-Kuchen und ein Lattemacchiato wecken meine Geister wieder. Am Himmel über uns ziehen wieder dicke bleierne Wolken auf. Was bemitleide ich die vielen TPB-Racer, die den Berg vom Süden her in Angriff nehmen und uns nun auf unserer Talfahrt entgegen kommen.


Aber es dauert nicht lang, der Regen holt uns ein, als wir den Talgrund erreichen. An einer Holzbrücke blickt uns ein blonder Schopf entgegen: „Seid ihr da grad über die Straße runter gekommen?“ „Ja, wieso?“ Was mischt sich denn der da ein? „Na, dann schaut euch doch mal das GPX der Pflichtstrecke an!“ Hatte ich ja mit meinem Track verglichen, wohl aber die letzten beiden Kilometer im Tale wohl nicht, die auf dem Radweg verliefen. Was tun? Schnell dem Michael unser Versehen geschrieben und dann bleibt uns nichts anderes übrig als wieder taleinwärts zu fahren, um der Disqualifikation zu entgehen. So müssen wir wohl dem Gerald M. dankbar sein, dass er uns hingewiesen hat. Daaaaanke!!!!
Auf der nächsten Steigung treffen wir das erste Mal auf Jost, unsere Wege werden sich bis kurz vor Nizza immer wieder kreuzen. „Bist du die Gabi?“ Er stellt sich als Freund von Torsten vor. Ja, den kennen wir, der ist nur ein Stück hinter uns. Nein, nicht den Torsten Frank meinte er, sondern Torsten B., ach ja, die Welt ist klein …
Hatten wir vor von Lienz aus noch weiter Richtung italienischer Grenze zu fahren, hatten sich diese Pläne nun zerschlagen. Nass und ausgekühlt würden wir unterwegs kaum ein trockenes Biwakplätzchen finden. Was tun? Mir fällt ein Gasthaus ein, das auf unserem Weg liegt, der Braugasthof Falkenstein. Wir könnten dort um ein Zimmer fragen und dafür früh morgens starten, das Wetter sollte dann auch besser sein. Dusche im Zimmer „Fass“ (Waschbecken ein Bierfass und die Armaturen der Zapfhahn, witzig!!), ein gutes Abendessen und eine angenehme Nachtruhe, fit und guten Mutes geht es frühmorgens, sprich halb vier, los.


Tag 2 (290km/ 3300Hm)
Guten Mutes? Nicht lange und es beginnt zu regnen, nanu? War das vorausgesagt? Zudem komme ich gefühlt nur sehr langsam weiter, obwohl es fast eben ist. (Eben? Keineswegs, erst im Nachhinein sah ich die vielen Steigungsmeter bis zur Grenze). Mit dem Regen kommen die fiesen Gedanken. Regen? Wenn das so weiter geht, hat das ganze Rennen keinen Sinn. Ausgekühlt und nass … nein, dann werde ich die Fahnen wohl streichen, spätestens in wenigen Stunden, in Brixen. Zudem donnern immer wieder Schwertransporter an uns vorbei und der Fahrtwind wirft mich fast um. Sein Leben auf’s Spiel setzen? Wegen eines Radrennens? Das hatten wir doch im vergangenen Jahr auch schon mal (TPBR2019 – im Gewitter auf dem Arcalis). Und den Hauptgrund hatte ich noch gar nicht genannt: Meine vier Buchstaben, sprich Sitzknochen, tun seit dem Vortag bei jeder Pedalumdrehung höllisch weh.
An der Grenze hört der Regen auf, es dämmert langsam, über dem Haunold geht die Sonne auf und die fiesen Gedanken verschwinden spätestens beim Lattemacchiato und Gipfele bei der Tankstelle in Toblach, das Frühstück dort ist legendär, die vielen Einkehrer zu so früher Stunde zeugen davon.
Brixen erreichen wir auf uns bekannten Radwegen. Meine Gedanken fliegen im Karussell. Dableiben, vorbeifahren, dableiben? Das Traumwetter überzeugt mich schließlich: vorbeifahren und auf unseren Heimstrecken durch Bozen, Meran, das Vinschgau bis nach Glurns zu rollen. Hier biegen wir in der nachmittäglichen Hitze ab und mühen uns über die Schweizer Grenze. In Santa Maria gibt es Abendessen „Ghackets mit Hörnli und Apfelmus“, sprich Nudeln mit Fleischsauce und Apfelmus, seltsame Kombination, aber ich brauche viele leicht verdauliche Kalorien. Weiter in den Abend hinein. Der Ofenpass muss noch überwunden werden, dann geht es runter nach Zernez. Dort soll unser Biwak aufgeschlagen werden. Wir wollen doch die ganzen Utensilien nicht umsonst von Wien nach Nizza schleppen. Ausgedacht war 1x Hotel, 2x Biwak, usw.
In Zernez hat es an die 8 Grad. Ich schlottere von der Abfahrt. Wo schlafen? Wir treffen auf Jost. Der will noch über den Albula Pass und in wärmere Gefielde abfahren. Ich will nicht weiter. Aber: Alle Hotels sind belegt. Unser letzter Versuch, auch hier ausgebucht, aber … es gibt eine Art Hüttenlager. Gerne, denn einen Schlafsack haben wir ja mit.

Tag 3 (210km/ 4100Hm)
Gegen vier sind wir wieder auf dem Rad. Es ist empfindlich kalt. Und jetzt finden sich … ich brauche nicht lange warten … auch die fiesen Gedanken wieder ein. Warum denn das? Kein Regen, das ist schon mal was. Aber bei jeder Bewegung tut der Sitzbereich sowas von weh. Ein großes Hämatom ist schuld daran. Setze ich mich auf’s Rad geht es los. Es schmerzt höllisch. Missachte ich die Schmerzen, dann hört es mit der Zeit etwas auf … Aber setze ich mich nach einigen Metern im Wiegetritt, sind die Schmerzen wieder da. Wie ich das wohl aushalte bis ins Ziel und vor allem, wenn es noch schlimmer werden sollte? Die Gedanken fahren wieder Karussell. Ich muss mir vor Augen führen, dass mit einem Frühstückskaffee die Gedanken immer wieder besänftigt wurden. So auch heute, nach Erreichen der Albula-Passhöhe und der spektakulären Abfahrt finden wir in Bergün eine kleine Bäckerei. Als wir unsere Lebensgeister aufwärmen, kommt ein unterkühlter Jost bei der Tür herein. In seinem Biwak war es anscheinend nicht grad sommerlich warm.


Nun steht noch Oberalp-Pass und Furka auf dem Programm. Dazwischen aber noch fast 100 Kilometer Auf und Ab entlang des Vorderrheins, anfangs bis Illanz mit spektakulären Tiefblicken auf den Fluss. Es wird langsam warm. Endlich mal. Aber bald Richtung Disentis wird es unerträglich heiß. Am Fuß der Pass-Straße, kurz vor Sedrun, auf einmal ein Platzregen. Schnell retten wir uns in ein Café und da ist der Spuk schon vorbei, die dicke schwarze Wolke verzieht sich grollend Richtung Osten. Gerettet. Wir hatten aber auch Glück. Die hinter uns wird es wohl voll treffen. Nun aber flott weiter. Auf nicht mal halber Höhe Richtung Pass wird es schon wieder zappenduster am Himmel. Wie schnell das hier heute geht. Erst noch Sonnenschein, dann schüttet es wie aus Kübel. Kein Unterschlupf weit und breit. Da! Der erste Donner. Hektisch trete ich in die Pedale.

Wohin soll ich nur jetzt. Gewitter in den Bergen, meine größte Angst. Ein paar Hundert Meter vor mir ein Baustellen-Container. Ich rette mich dorthin. Ich versuche mich vor dem stürmischen Wind zu schützen und so vor der ärgsten Flut. Keine Chance. Hermann hinter mir ruft, ich solle zu ihm kommen. Ich drehe mich um und trotz Ernst der Lage muss ich schmunzeln: Er winkt aus dem weiß-blauen Dixi Kloo. Zu zweit drängen wir uns in das enge Kabüffchen. Es riecht nicht besonders gut, schützt aber vor dem Regenguss und hier drin ist es auch gemütlich warm. Wie das Gehäuse sich verhalten würde, wenn ein Blitz einschlägt, wage ich nicht zu denken. Was hatten wir aber für ein Glück, nach einer halben Stunde Gefängnis scheint wieder die Sonne und wir setzen unseren Weg die letzten Serpentinen auf den Pass fort. Wir treffen wieder auf Jost und fahren gemeinsam nach Andermatt ab.

Über dem Ort ziehe sich schon wieder die Gewitterwolken zusammen und kaum sitzen wir in der Bar im Trockenen, geht der Spuk schon wieder los. Das Regenradar kündigt es an, die nächsten Stunden kommen immer wieder Gewitterfronten von Westen nach. In einer Regenpause starten wir Richtung Furka-Pass. Meine Angst macht mir Beine. Das nächste Gewitter fängt uns auf halber Höhe zum Pass ab. Zu unserem Glück können wir nahe einer Hütte mit Ställen Unterschlupf finden. Gemeinsam mit uns ist Gund und nach wenigen Minuten gesellt sich Jost zu uns, der wieder abgefahren war, als ein Blitz knapp neben ihm einschlug. Richtung Andermatt ein riesiger Regenbogen. Dorthin hatten sich die Gewitterwolken verzogen und wir konnten bei abendlichen Sonnenstrahlen unseren Weg fortsetzen. Was hatten wir wieder für ein Glück. Die Abfahrt vom Furka mit spektakulärem Blick auf Hotel Belvedere, auf die Gletscherschliffe des Rhone-Gletschers (nanu, vor etwa 10 Jahren war hier doch noch Eis und man konnte die berühmte Eisgrotte begehen …) und auf den gegenüber liegenden Grimselpass (Furka und Grimsel durfte ich beim Extreme Triathlon Swissman schon mal fahren). In Gletsch müssen wir zum Glück nicht hoch, sondern fahren nach Süden ab, der jungen Rhone entlang, die sich hier durch die Felsen quetscht. In der Dämmerung ist es mit den nassen Schuhen und Klamotten wieder mal fröstelig kalt. Biwak? Heute wohl schon wieder nicht. Mit Jost teilen wir uns nach einem guten Abendessen ein Familienzimmer. Unsere Sachen können wir an den Skischuh-Trockner hängen. Frühmorgens müssen wir leider wieder aus den Federn. Wir verlassen den Skikeller. Nach einigen Hundert Metern merkt Hermann, dass ihm etwas fehlt: der Helm!!! Zurück zum Hotel. Zu unserem großen Glück: Jost ist noch im Haus und kann ihm die Kellertüre von innen öffnen. Nicht auszudenken, wenn er mit uns das Hotel verlassen hätte. Wir hätten wohl vor der Tür vier Stunden warten müssen …

Tag 4 (230 km/ 3900Hm – CP2 Col Sanetsch)
Weniger Glück … meine Sitzfläche schmerzt beim Wegfahren fürchterlich. Und durch das Entlasten durch eine andere Sitzhaltung gesellt sich nun schmerzmäßig auch mein rechtes Knie dazu. Ob das wohl gut geht, denn wir hatten ja nicht mal die Hälfte der Strecke hinter uns. Die fiesen Gedanken kehren zurück … nicht nur wegen meiner Schmerzen, sondern auch wegen des nun einsetzenden Nieselregens. Nicht mal die Gedanken an den Latte Macchiato und das Brioche mit Schokoladenfüllung, die erfahrungsgemäß stimmungsaufhellend wirkten, helfen mir im Moment, zu sehr beschäftigen mich meine Schmerzen. Ich überlege, wie es wohl sein würde mit den Verkehrsanbindungen. Sollte Hermann doch alleine weiter fahren, ich käme mit dem Zug nach Nizza nach und alles Leiden hätte ein Ende. Das Wetter spielte ja auch nicht mit und besser als noch vier Tage mit Höllenschmerzen im Regen rumzufahren …
Ich vergesse die fiesen Gedanken als vor mir ein rundes weißes Schild mit rotem Rand auftaucht und in der Mitte ein Radfahrer. „Hermann, Halt!!!!! Hier dürfen wir nicht …!!!!“ Das würde doch glatt zur Disqualifikation führen … Hermann hört mich nicht. Panisch lege ich einen Zahn zu. Auf Augenhöhe mit dem Schild verwandelt es sich: In der Mitte eine große 50 … Welch ein Glück, kein Radfahrverbot, sondern eine Geschwindigkeitsbegrenzung. Hatte mein umnebeltes Gehirn mir doch einen Streich gespielt und 5 und 0 waren zwei Räder … Warum sehe ich Dinge, die es gar nicht gibt? Vermutlich beschäftigt mich wahrscheinlich ein Satz Michaels vor Start, er kenne kein Pardon bei Fahrten durch Tunnels mit Radfahrverbot, dabei schaut er uns vielsagend an (siehe TPBR2019) und bei Autobahnen schon gar nicht. Nicht zuletzt deshalb hatten wir peinlichst genau unsere geplante Strecke auf solche Eventualitäten untersucht. Große Teile waren wir schon via Google Street View virtuell abgefahren.
Nicht lange später wieder mit Erschrecken das Verbot für Velos, diesmal entpuppte es sich allerdings als eine Sechzig.  So geht es noch eine Weile weiter, was mich aber von den Schmerzen etwas ablenkt.
Eine Tankstelle liefert dann bei Dämmerung das Stimmungsaufhellungsgetränk und die Welt sieht (wie erwartet) ganz anders aus. Nicht mehr weit ist es bis Sion und dort beginnt der nächste ernste Aufstieg nämlich zur zweiten Kontrollstelle, dem Col Sanetsch. Aber noch muss ich mit dem Tadel Hermanns leben, der sich mokiert, dass er einen Umweg von fünf Kilometern machen muss. Er wäre ganz anders gefahren, der Aufstieg weiter östlich und Abfahrt auf meiner Strecke. Es sollte sich allerdings herausstellen, dass meine Entscheidung die einzige goldrichtige war …

Kurz vor Abzweigung passieren wir das Café Relais du Simplon. Die gemütlichen Sitzgelegenheiten im Garten vor dem Haus winken uns einladend zu einem zweiten Frühstück heran. Die nette Chefin mit ihrer Enkelin bewirtet uns sehr freundlich. Unser Wunsch nach Joghurt mit Früchten und Müsli wird erfüllt. Mir kommt eine blendende Idee. Nach unserem Gipfel kommen wir genau hier wieder vorbei, könnten wir da nicht … hmmhmmm … Ich gebe meine Frage an die Wirtin weiter. Ja, klar dürfen unsere Biwaksachen hier lassen. Sie zeigt uns, wie wir vom Garten hinter dem Haus an unser Zeug kämen.
Wie leicht fällt nun der Aufstieg Richtung Sanetsch, obwohl jetzt am frühen Vormittag die Sonne schon fest sticht. 30 Kilometer bis zum Kontrollpunkt müssen wir hoch. Unterwegs treffen wir auf Jost und Andrea. Die beiden ächzen, ihr Aufstieg steilte sich bisweilen bis zu 15% auf. Triumphierend blicke ich zu Hermann.

Das und sein leichtes Rad hat er nur mir zu verdanken. Ich hatte mich auf einen langen Aufstieg eingestellt und dieser fällt mir wider Erwarten gar nicht mal so schwer. Das ist wieder mal ein Beweis, dass vieles im Kopf abläuft. Manch kleinerer Mugel bereitet mental mehr Probleme, wenn man nicht darauf vorbereitet ist. Das Wetter zudem traumhaft. Und wenn ich nicht zu oft die Sitzhaltung ändere, scheinen Knie und Hinterteil auch weniger zu schmerzen.

Die Höhe ist mit vielen Fotopausen erreicht, nun eine kleine Abfahrt (bäh, das wird ein Gegenanstieg) und um den Sanetschsee herum bis zum Bergrestaurant an der Staumauer. Hier erwarten uns schon die beiden Fotografen von Adventurebikeracing. Großes Hallo, als von der anderen Seite Brian L. eintrifft. Von Gsteig führt ein hochalpiner Wanderweg herauf, was bedeutet, dass sein beladenes Rad hochgetragen werden musste. Unsere Hochachtung!! In gemütlicher Runde fülle ich mit kräutergarniertem Hummus meine Proteinreserven wieder auf. Leider müssen wir aber weiter. Wir haben noch einiges vor. Die Bremsen werden bei 30 km Abfahrt ganz schön heiß. Am Fuße des Berges wollen wir unser Gepäck noch aufsammeln, aber das Relais du Simplon ist geschlossen. Mittagspause? Wir erinnern uns an das, was die Wirtin uns gezeigt hatte und finden wirklich die offene Türe vor. Etwas Katzenwäsche im Privat-WC erlauben wir uns auch noch und die Trinkflaschen müssen auch noch aufgefüllt werden. Dann machen wir uns wieder auf den Weg. Wir danken den Chefleuten des du Simplon vielmals für das Vertrauen.
Auf den nächsten, nämlich flachen Wegabschnitt bis Martigny habe ich mich eigentlich gefreut. Aber strammer Gegenwind macht unseren Weg durch die zahllosen Obstplantagen schwer. Nach einem Supermarkt-Stop folgt der vorletzte Passaufstieg heute: der Col de Forclaz. Unterwegs fragt uns Elias mit Cap 20, wie das so ist, in Natura und beim Race als Paar. Ich will grad antworten, da übernimmt mein Göttergatte: Naja, Probleme verdoppeln sich halt … Na warte, wenn ich den mal mit dem Kochlöffel erwische … Probleme? Wo sieht er da denn Probleme??? Aber es stimmt schon: Jeder von uns beiden wäre alleine wahrscheinlich flotter unterwegs. Bleibt der eine mal stehen, muss der andere warten und umgekehrt.
Oben auf der Passhöhe treffen wir wieder auf die Fotografen. Großes Hallo und Fotoshooting.

In der Dämmerung müssen wir weiter, um über die Grenze zu Frankreich und den Col Montet nach Chamonix zu gelangen. Die Gegend hier „kenne“ ich schon, bzw. sehe ich das erste Mal bei Tag, nachdem ich schon mehrmals beim Berglauf UTMB und CCC hier nachts per pedes vorbeikam. In einem Park bei Chamonix schlagen wir nun unser erstes Biwak auf. Also, auch, wenn das vielleicht das einzige Lager im Freien bleiben wird, ganz umsonst schleppen wir Matte, Biwaksack und Schlafsack nun doch nicht mit, welch ein Glück. Bei Stirnlampenlicht und mit blankem Po – meine strapazierte Haut muss mal an die Luft – erledige ich Auf- und Abbau meines „Bettes“. Hier sieht mich ja eh niemand … Detail am Rande: Tags darauf muss ich hören, dass noch weitere zwei Fahrer ihr Lager nahe unserem im selben Wäldchen aufgeschlagen hatten, uppps …

Tag 5 (300km/ 2600Hm)
Wieder nächtlicher Aufbruch. Weiter raus nach Le Houches. Die Nebenstraße endet. Komoot lenkt uns … auf eine Art Schnellstraße. Vollbremsung. Das ist doch nicht möglich. Jost schließt zu uns auf. Auch sein Track führt identisch weiter. Wir orientieren uns und finden eine Straße, die rechts umfährt. Die endet allerdings nach wenigen Kilometern an einem Zaun, also wieder zurück. Laut Komoot und Openrunner müssen wir kurz auf die N205. Ich vergesse schlagartig meine Schmerzen, mir wird ganz flau im Magen. Die Situation hatte ich irgendwann mal kommen sehen. Trotz genauer Recherche stehen wir jetzt vor einer Situation, die im Stockfinsteren nicht überschaubar ist. Ich google vorsichtshalber nochmal den Passus, den ich zuhause gefunden hatte: Die Route Nationale kann abschnittsweise mit dem Rad befahren werden. Rad-Fahrverbot sehe ich auch keines. Aber bedeutet kein explizites Radverbot eine Erlaubnis dort zu fahren?  Später wird uns Brian informieren, dass bei Einfahrten, an denen es Ausweichmöglichkeiten gibt, deutliche Radfahrverbotschilder angebracht sind. Die Nachtalps vom Vortag tauchen vor meinem inneren Auge auf: die spiralförmigen Erscheinungen, die sich als Ziffern outen. Beunruhigt fahre ich ein, es sind eh nur 400 Meter, dann folgen wir einer holprigen Nebenstraße, die einen Tunnel umfährt.  Wie ich schemenartig im Finstern erkennen kann mündet die Buckelpiste an einer schluchtartigen Engstelle wieder auf die Nationalstraße. Nochmal wenige Hundert Meter und wir sind raus. Ab hier ist laut Schild definitiv Verbot für Traktoren, Fuhrwerke, Radfahrer und Fußgänger. Brouter, Komoot und Co haben das glücklicherweise gut erkannt. (Nachtrag: Trotzdem gibt es für uns und für viele andere eine Zeitstrafe von 6h …). Wir gondeln bei Tagwerden auf einer wunderschönen Auf- und Abstraße durch ein dichtes Waldgebiet, dann folgt eine atemberaubend aussichtsreiche Abfahrt nach Passy. Hinter uns die Mont-Blanc-Riesen vor uns eine lichterdurchflutete Ebene. Der erste Anstieg folgt: Saint Gervais. Bald gibt es Frühstück mit Jost. Mein Körper sehnt sich nach den Aufregungen am frühen Morgen schon lange nach Latte Macchiato und mein Po nach einer kurzen Entlastung.

7-9-12,9,0

Nicht lange später versperrt uns ein Umleitungsschild den Weg. Steil bergauf sollten wir nun fahren, anstatt wie geplant hinunter durch eine Schlucht nach Albertville. Einige Fahrer kommen hier zusammen. Was nun? Vielleicht kann man die gesperrte Stelle umfahren oder zu Fuß umgehen? Die ganze Gruppe rollt abwärts. Wir werden aber abrupt gestoppt durch die Straßenarbeiter. Nein, die Straße ist wegen Steinschlag komplett gesperrt, auch für Radfahrer. Für uns bedeutet das an diesem Tag unerwartete etwa 500 Höhenmeter mehr. An diesem Tag verschiebt sich auch unser bisher super getimter Zeitplan leicht nach hinten.
Bis Grenoble folgen nun endlose schnurgerade Strecken durch den heißen Vormittag, manchmal glücklicherweise beschattet durch kilometerlange Pappelalleen. Sehnsuchtsvoll halte ich in jedem Dorf nach Brunnen Ausschau. Einige wenige liefern Ganzkörper-Erfrischung.


Vor Grenoble eine uferlose Ampelkette. Wir als Radfahrer kommen nicht in den Genuss einer „grünen Welle“, sondern stehen vor jeder Ampel minutenlang in der Hitze. Erschöpft lassen wir uns in Grenoble vor einem Supermarkt im Schatten nieder. Hermann geht einkaufen. Ich lasse ihm da den Vortritt. Selber schuld … hätte er beim vergangenen TPBR nicht leichtfertig angemerkt, dass ich immer soooo lange brauche beim Einkaufen. Er bringt leckeres Trinkjoghurt, Cola, belegte Baguettes und Jost EIS … Hmmhhmmm.
Ein Pass steht uns bevor. Zum Glück ist er nicht steil und in Abschnitte mit kurzen Pausen dazwischen überleben wir die Hitzeschlacht auf den Col du Fau. Nun geht es auf dem gut ausgebauten Radfahrer-Seitenstreifen viele Kilometer auf und ab mit wunderbarem Blick auf eine weiße Bergkette, über der sich die Wolken bleiern zusammenziehen. Wir haben Glück und sind von Gewittern heute verschont. Mein Sitzpolster schmerzt bei jeder Bewegung. Cola-Eis-Pause kommt wie gerufen. Eine Qual die Leute im Schwimmbecken nebenan toben zu sehen. Das Tüpfelchen auf dem i – eine Wespe sticht mich in den Bauch. Das lenkt jedenfalls von den vier Buchstaben – sprich Popo- ab.


Nicht lange später, wir haben unseren letzten Pass an diesem Tag, den Col de la Croix Haute, abgehakt,  gibt es Abendessen. Wir treffen auf Nicola, dem die Hitze extrem zu schaffen macht und der im Moment fix entschlossen ist aus dem Rennen auszusteigen, er wird allerdings, nachdem sich unsere Wege noch mehrmals kreuzen, einige Stunden vor uns in Nizza ankommen. Auch Jost gesellt sich wieder mal zu uns.  Die Pizza ist sagenhaft groß und lecker. Gestärkt geht es mit einem Affenzahn nochmal 50 Kilometer im Falsopiano leicht abwärts. Es hat schon eingedunkelt, als wir Laragne de Monteglin erreichen. Hier waren wir schonmal im Jahr zuvor. Wir richten unser zweites Nacht-Lager hinter einer Hecke in einem Garten mit kurz getrimmtem Rasen ein und stellen den Wecker wieder auf vier Uhr.

Tag 6 (230km/ 3700Hm – CP3 Mont Ventoux)
Wie 2019 geht es nun dem Flüsschen La Méouge entlang. Ich vermute kilometerlang durch eine Schlucht, im Dunkeln kann man das nicht so genau erkennen. Die fiesen Gedanken bleiben heute aus, es ist abgesehen vom schmerzenden Po nur wunderbar durch die laue Nacht zu pedalieren. Aus der Schlucht heraus merken wir an der stellenweise nassen Straße, dass es hier wohl früher geregnet hat. Hatten wir ein Glück wieder mal. Wie 2019 erwartet uns weiter oben betörender Duft. Ich weiß nun, dass dieser zahllosen Lavendelfeldern entströmt.


Nach einer sagenhaften Abfahrt durch eine Schlucht erwartet uns Frühstück bei einem Abstecher in eines der schönsten Dörfer Frankreichs: Montbrun-les Bains. Dann geht es weiter und nicht lange später münden wir auf die legendären Tour-de-France-Straße. Schon den Kelten galt dieser Berg als heilig. Es ist im ersten bewaldeten Teil schön kühl, auch die Steigung ist angenehm. Und dann steht er plötzlich vor uns: der Berg der Berge – der Mont Ventoux. Ich kann mich nicht satt sehen. Er ist aber auch äußerst fotogen: Über dem dunklen Grün des Waldes erhebt sich schneeweiß der Gipfel. Schon der Dichter Francesco Petrarca hatte 1336 diesen fabelhaften Berg erstiegen. Tausende von Radfahrern erklimmen den „Gigant der Provence“ täglich. Die Kontrollstelle befindet sich beim Restaurant Chalet Reynard. Von hier wird es nach einer Stärkung etwas mühsamer, schattenlos und steiler.

Immer wieder halte ich für Fotos an. Kurze Gedenkminute am Denkmal eines der ersten Dopingopfer im Radsport zu einer Zeit, als man noch nicht abschätzen konnte, wie gefährlich das Zuführen von chemischen Substanzen zur Leistungssteigerung sein kann. 1967 am 13.Juli brach der englische Radprofi Tom Simpson eineinhalb Kilometer vor dem Gipfel erschöpft zusammen und verstarb noch an der Unglücksstelle. Es stellte sich heraus, dass Simpson eine hohe Dosis von Amphetaminen und wohl auch Alkohol zu sich genommen hatte. Am Gipfel ein Menschen- Gewimmel, Corona-Virus? Hat wohl noch nie jemand davon gehört. Seltsamerweise hatten wir auch in der gesamten Schweiz niemals jemanden mit Maske gesehen. Fotoshooting, denn auch die Fotografen von Adventure Bike Racing sind zur Stelle. Wir treffen Tomàs Z., der hier das Handtuch werfen muss, der sogenannte „Shermer’s neck“, unerträgliche Schmerzen in der Halswirbelsäule durch die ungewohnte Haltung auf dem Rad, hat ihn leider so „kurz vor dem Ziel“ ausgeknockt. Kurz vor dem Ziel … dachte ich bei mir … aber es sollte jetzt erst so richtig anfangen.

Nach der wenig erfrischenden Abfahrt ging es nun kilometerlang im Flusstal des L’Ouvèze entlang. Hier stand die heiße Luft nur so. Kurze Pause bei einem Stand mit frischen Früchten. Wir trinken einen Liter Pfirsich-Saft, womit ich mir auf der anschließenden ellenlangen unendlich heißen Steigung auf den Col de Perty einige Zwangs-Pausen hinter Büschen einhandelte. Am späten Nachmittag ging es dann wieder runter. Im ersten Dorf ein rettender Brunnen in einem Dorf am Ende der Welt. Kein Geschäft weit und breit.

Wie sollten wir uns denn nun versorgen? Eine deutsche Frau lädt uns zum Abendessen bei sich zuhause ein. Brot hätte sie zur Genüge. Nette Geste, aber wir wollen weiter. Stunden später, vor Ribiers, hören wir schon von Weitem Musik. Ein Dorffest. Der Stand neben dem Dorfbrunnen kommt genau richtig: Wir schlemmen so richtig mit Galettes, Buchweizenpfannkuchen mit Pilz-Ei-Füllung und zum Nachtisch gibt es Crepes sucre citron. So lecker!

Gestärkt brechen wir auf, um nicht kurz später in der Dämmerung im malerischen Städtchen Sisteron eine weitere Eis-Cola-Pause einzulegen und uns im touristischen Gewimmel auch noch mit Sandwiches einzudecken. Wer weiß, wann wir das nächste Mal was bekommen. Wir haben nämlich den nächsten sehr langen Anstieg zum Signal de Lure vor uns und wollen in der Dunkelheit noch fahren soweit es die Fitness zulässt.


Die Straße steigt regelmäßig an, der Split-Belag allerdings ist äußerst unangenehm, man muss gut aufpassen, dass es einen nicht auf die Nase legt. Nicht lange später übermannt uns die Müdigkeit und wir suchen uns eine Lagerstätte für unser drittes Biwak, etwas abseits der Straße. Hermann lagert auf einem Waldweg, ich suche mir einige Meter neben ihm einen Platz unter einem Baum, links und rechts durch Büsche geschützt. Wecker auf vier Uhr und wir fallen sofort in den ersehnten Schlaf.

Tag 7 (210 km/ 4000 Hm)
„Plopp …!“, 3:18 Uhr – ich sitze in Sekundenschnelle kerzengerade auf meinem Daunenbett auf der Luftmatratze. Was gibt es hier im französischen Bergwald wohl für wilde Tiere? Bären? Wölfe? Wildschweine? Was war das gerade, was auf meinen Biwaksack geploppt ist? Wird wohl nichts gewesen sein … Ich lasse mich zurücksinken, aber von Schlaf keine Rede mehr. In sekündlichen Abständen fallen kleine Gegenstände auf meinen Biwaksack. Nach zwanzig Minuten etwa ist wieder Stille. Was war denn das? Ein Eichhörnchen mit nächtlichem Heißhunger? Oder ein Tierchen, das sich köstlich amüsierte, was für einen interessanten Plopp-Ton es auslöste, wenn man Sachen auf das orangene Ding da unten fallen ließ? Ich kann mich erinnern, dass ich etwas vom Baum fallen habe hören, als ich mein Lager gerichtet hatte, mir aber nicht weiter Gedanken gemacht hatte. Eine halbe Stunde zusammenlegen und aufpacken und wir sind wieder on the road. Fiese Gedanken suchen mich auch heute Morgen fast keine heim.

Der Po schmerzt aber nach wie vor und es scheint sich auch eine kleine offene Stelle gebildet zu haben. Bei Sonnenaufgang sind wir auf der montagne de Lure, er wird von den Franzosen liebevoll als kleine Schwester des Mont Ventoux bezeichnet, den man in der Ferne schemenhaft erkennen kann. Bei der langen Abfahrt holen mich Müdigkeitsattacken ein. Da es Hermann ebenso ergeht, halten wir und strecken uns am Straßenrand für einen Powernäppchen aus neben unseren Rädern. Für einen vorbeifahrenden Autofahrer muss das wohl wie ein Unfall aussehen … Weiter geht es und bald die ersehnte Bäckerei und Latte Macchiato für mich.


Nun tauchen wir ein in den Naturpark Verdon und kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Zunächst hügelig durch das Umland der legendären Schlucht des Verdon. Die Temperatur steigt von Stunde zu Stunde. Bei höherem Tempo kühlt die Luft etwas. Aber jede Steigung und Tempominderung bedeutet extreme Hitze. Wie schön wäre jetzt ein Regenguss. Wie sich doch die Vorlieben verschieben können. Wie hatte ich in den ersten drei Tagen die Wärme herbeigesehnt, nun wünschte ich ein klein wenig Abkühlung. Meine Garmin zeigt mitunter über 40° an, obwohl ich sie mit einem Tuch vor der direkten Sonnenenstrahlung abschirme.  Nach einer Cola-Eis-Pause, bei der wir Brian treffen, steigt die Straße an.

Ich frage mich, ob die Weiterfahrt bei derartigen Temperaturen vernünftig ist. Wie gerne würde ich jetzt irgendwo im Schatten die ärgste Hitze abwarten. Hermann meint jedoch, dass es so schnell nicht abkühlen würde und wir müssten weiter.  Die Mühen in der Nachmittagshitze sind aber wie weggeblasen, als wir um die nächste Kurve biegen. Eine Traumaussicht bietet sich uns auf den Fluss Verdon umrahmt von steilen Felswänden. Im Fluss unter uns tummeln sich ungezählte Wassersportler. Wie gerne wäre ich jetzt da unten. Nicht weit und ich finde eine Abkühlung, ein eiskalter kleiner Sturzbach ergießt sich neben der Straße. Weiter fahre ich klatsch nass, einschließlich Radhose … Die Idee der Ganzkörperdusche war wohl nicht so gut für mein Sitzpolster, es brennt fürchterlich. Nach vielen Ahs und Ohs und Fotopausen nähern wir uns Palud sur Verdon. Hier treffen wir auf viele Teilnehmer. Einige Glückliche haben schon die vor uns liegende Verdon-Schleife hinter sich. Wir machen uns nach einer kurzen Pause auf den Weg in den glühendheißen Nachmittag. Die durchgehend 15%-ige Steigung tut weh. An uns rauschen Leute mit E-Bikes vorbei.

Immer wieder kommen wir an spektakulären Aussichtspunkten direkt am Abgrund und das lässt die Anstrengung kurz vergessen. Ich hatte erwartet, dass wir nach dem höchsten Punkt gemütlich zurück nach Palud und zu unserem Abendessen rollen. Leider nein. Es zieht sich elendlich lang dahin, abwärts, dann wieder Steigungen. Irgendwann sitzen wir aber doch glücklich vor unserer Spinatlasagne und einem großen Eisbecher. Dann rollen wir weiter durch den Georges du Verdon, spektakel pur bei unserer Fahrt duch den Grand Canyon du Verdon. In Castellane noch ein Eis-Cola-Stop. Ich fühle mich erhitzt, meine Wangen sind hochrot. Ob das nicht schon in Richtung Hitzeschlag oder Sonnenstich geht? Ich bekomme mich mit Hermann in die Wolle, der meint, wir sollten in Castellane unser Lager aufschlagen, wenn es mir nicht gut ginge. Nein! Mir geht es gut, wir müssen weiter noch auf den nächsten Pass, den Col du St. Barnabé, ich würde halt langsamer fahren. Auf den letzten Kilometern schiebt uns sehr starker Wind fast schon ohne zu Kurbeln nach oben. Ein Grollen lässt mich aufschrecken. Ein Blick nach Oben lässt mich Schauern.  Rechts von uns der Mond vor tiefblauem Himmel, links düstere Gewitterwolken. Oje! Das hat uns noch gefehlt. Wo finden wir einen Unterschlupf, wenn es jetzt losgehen sollte?

Ich pedaliere schneller, wie immer, wenn mir die Angst im Nacken sitzt. Vor uns nur Wald und Wald und Wald. Dann tief unter uns ein Dorf. Bunte Lichter die in den Himmel zucken zeugen von einer Party. Wir fahren ab, Splitfahrbahn mahnt zur Vorsicht. Beim nächsten Dorf hat sich der Sturm beruhigt, aber ob nicht noch eine Regenfront nachkommt, wer weiß. Wir finden ein unbewohntes Haus und lassen uns im Garten nieder. Wenn es anfangen sollte zu regnen könnten wir uns in den Eingangsbereich zurückziehen. Es sind zwar nur noch knapp 100 Kilometer bis Nizza, aber eine Nacht durchfahren würde ich wohl nicht durchhalten nach dem Schlafentzug der ganzen Woche. Es hat auch was, gemütlich am nächsten Tag die paar Kilometer ins Ziel zu radeln und noch was von der schönen Landschaft zu sehen. Unser Hotel konnten wir in der Nacht sowieso nicht beziehen.

Tag 8  (95 km/ 900Hm)
Also wieder um vier Uhr Start. Im Dunkeln können wir steile Felswände um uns ahnen. Bei Dämmerung passieren wir Dörfchen, wie Adlerhorste an die Hänge geschmiegt. Wunderschön. Frühstück in Bouyon in der Bäckerei am Dorfbrunnen. Lässig. Dann geht es weiter auf der Panoramastraße, die bald schon von Hunderten von Radfahrern bevölkert wird. Erste Ausblicke auf unser Ziel Nizza. Die letzten Kilometer durch die Dörfer, dann sind wir an der Küste. Eine Strandpromenade mit Radfahrspur bringt uns an unser oft ersehntes Ziel. Ein großes Hallo vonseiten Michael und von anderen Fahrern, die im Ziel herumlungern.

Zur Belohnung gibt es ein kühles Bier und eine sehr schön illustrierte Skizze von der Fahrt. Ich kann es kaum glauben, schon hier zu sein. 2000 Kilometer und doch  erscheint mir jetzt unsere Fahrt von Wien hierher so kurz und doch gespickt mit so vielen Erlebnissen. Mein Sitzleder? Schmerzen? Die sind auf einen Schlag vergessen … was bleibt ist der Stolz und die Erinnerung an ein unvergessliches Abenteuer …
Danke, Michael!
Wunderbare Landschaften und das gemeinsame Erlebnis mit vielen Gleichgesinnten das ist TPBR.

Ergebnis:
Wir überfuhren die Ziellinie als 3. Team.
Vor uns sind schon 50 Teilnehmer von über 100 Gemeldeten in Nizza angekommen.
Etwa 84 haben das Ziel erreicht. 20 haben unterwegs aufgegeben.

Ralph Schwörer hat einen wunderbaren Erlebnis-Bericht verfasst. Da er auf derselben Strecke wie wir unterwegs war (allerdings war er zwei Tagen schneller in Nizza mit kaum Schlaf), können wir viele Orte und Situationen nachvollziehen und uns damit zurückversetzen in die megaschöne Racewoche. Hier geht es zum Bericht von Ralph.


18 Kommentare

  1. Werner Weisbecker

    Danke Gabi für den sehr ausführlichen und beeindruckenden Bericht und auch für das tolles Video. So konnte ich auch die vielen schönen Landschaften sehen, die ich nachts duchfahren habe. Ich (cap 84) habe außer einmal immer tagsüber (oder auch garnicht) geschlafen. Ich habe großen Respekt vor Eurer Leistung, wieder mal ein ganz großes Ding geschafft!
    Wir hatten uns am bike-check und Start unterhalten und sind mal beim Alpi4000 ein Stück zusammen gefahren.

    • gabiwinck

      Danke, Werner, seit Check in in Wien weiß ich, wer du bist. Aus meinem Geburtsort. Du hast das Ding ja super durchgezogen, bist super schnell gewesen. Mir ging es nicht um eine gute Platzierung, sondern diesmal allein um das Durchkommen, konnte ich mir das vorher kaum vorstellen. Da ich neue Landschaften sehen wollte und auch schöne Bilder, entschlossen wir uns zu genau dieser unserer Streckenführung und auch zu eingeschränkten Fahrten in der Dunkelheit. Obwohl letzteres in der zweiten Hälfte vernünftig gewesen wäre… LG und bis dann wieder mal … Weiß noch nicht, ob ich die Northcape4000 nächstes Jahr fahre oder mich wieder zu TPBR entschließe und den anderen Startplatz sausen lasse … Mal sehen …

  2. anbussma

    Herzlichen Glückwunsch zum Finish und zu diesem großartigen Bericht. Es war ein großes Vergnügen ihn zu lesen…….

    • gabiwinck

      Danke dir! Viel Spaß beim Stilfser Joch!!

      • anbussma

        Dankeschön…. Bin echt gespannt

  3. Christopher

    Affenstark!

    • gabiwinck

      Danke, Christopher!

  4. tinotoni67

    Tolles Abenteuer, toll beschrieben. Habt ihr beide fein abgeliefert! Da könnte ich fast für 2021 schwach werden. Toni

    • gabiwinck

      Danke! Ja, bin auch am Überlegen das dritte Mal mitzumachen, wieder tolle Kontrollpunkte …

    • gabiwinck

      Danke Toni, ja, einfach anmelden!!

  5. Stephan Simmermacher

    Sehr nett geschrieben, Gabi. Ich habe viele Situationen wiedererkannt und durfte wieder drüber schmunzeln. Gesperrt Straßen, Kälte, Müdigkeit, Hitze, Gewitter, Hunger, gesperrte Straßen, Schmerzen, steile Anstiege, Kaffee! und viel Essen. Wobei ihr da sicherlich mit Abstand besser gegessem habt. Gleichgesinnte treffen, wunderschöne Landschaften und weiter, weiter, weiter.
    Danke dir fürs Teilen.

    • gabiwinck

      Danke Stephan, freut mich, wenn jemand ein Statement abgibt … Ja, wir hatten uns dafür entschieden ein bleibendes positives Erlebnis mitzunehmen, auf Kosten der Zielzeit … eine letzte durchfahrene Nacht hätte uns um die schönen Ausblicke gebracht … und nebenbei war die Erinnerung an eine solche Nacht vor Barcelona letztes Jahr ausschlaggebend … sich mit Sekundenschlafattacken rumplagen … nein, danke! GlG Gabi

  6. Franz

    Herzlichen Dank Gabi für diesen eindrucksvollen Bericht und die wunderschönen Bilder. So kann man eure wunderbare, aber auch unglaublich gewaltige physische Leistung sehr gut nachvollziehen und fast selbst ein bisschen mitfahren. Unvorstellbar hart, physisch und vor allem auch für die Psyche eine fast unmenschliche Herausforderung sind für mich die Fahrten bei Dunkelheit, Kälte und Nässe. Das macht euch keiner so schnell nach. Ihr habt da in acht Tagen sicher mehr erlebt als so mancher im ganzen Leben. Großes Kompliment und herzlichen Glückwunsch für diese tolle Leistung und den sehr schönen Erfolg ! Beste Grüße Franz

    • Gabi Winck

      Danke, Franz, stimmt, manchmal kommt es einem selbst „unmenschlich“ vor …, aber die Momente vergehen, es ist sehr spannend, man weiß nicht, was noch alles auf einen zukommt, aber die Zeit vergeht so schnell und auf einmal ist man dann im Ziel …

  7. HATTINGER Christian

    HALLO Gabi, RESPEKT für eure 💪Leistung .
    Der Bericht ist echt lässig geschrieben.
    Bin mit meinen Freunden/ Gravler heuer auch schon ein paar längere Touren gefahren, aber ob uns so etwas auch einmal gelingen würde wage ich zu bezweifeln. Lg.Chris

    • Gabi Winck

      Danke, Chris, wir haben uns auch erst langsam an längere Touren herangewagt. Aber ist auch alles eine Kopfsache, wenn ich weiß, dass man nach 200km am Ziel sein wird, dann bin ich im Ziel redlich müde. Wenn ich weiß, ich muss eine Woche durchhalten, dann geht auch das … Allerdings ist mir das diesmal (Wien-Nizza) schwerer gefallen als letztes Jahr bei der Wien-Barcelona, siehe Bericht (Link auf der Home-Seite). Durch meine Probleme beim Sitzen war die Fahrt wirklich eine Qual, die ich aber zwischenzeitlich immer wieder verdrängen konnte. Frage mich aber, was passiert wäre, hätte man wirklich offene entzündete Stellen, nicht nur Hämatome …, dann wäre wohl mit Durchhalten auch nix … Immer besser gefallen uns auch die Gravel-Events … vor allem, weil man weniger auf befahrenen Straßen unterwegs ist. Letztes Jahr die Karwendel-Wetterstein-Runde waren wir (manchmal grenzwertig) mit dem Gravel-Bike unterwegs, dieses Jahr für die (Schottergaudi) haben wir deshalb das MTB gewählt und waren schneller. Den Tuscany Trail sind sehr viele mit dem Gravel angegangen … ich war froh um mein MTB … Viel Spaß beim Annähern an die Langstrecken … wir haben übrigens mit der PBP angefangen und ich kam ins Ziel mit dem Vorsatz „nie, nie wieder“ … siehe Beitrag … wie man sich täuschen kann … LG Gabi

      • Christian Hattinger

        Nochmals Servus Gabi
        Gebe Dir zu 100% recht mit dem annähern,haben heuer auch schon x den 300er geknackt / 04.00 Start und dann bis Rust / Bgld. .Es war ein super erhebendes Gefühl es geschafft zu haben.
        Sind auch noch beim GRAVEL INNSBRUCK gestartet,könnte ich Dir empfehlen wobei das ja kein Rennen in dem Sinne ist sondern mehr Adventure, ABER das gesellige DANACH war vom allerf1sten!!
        Übrigens wir sind dann auch gleich noch in 3 Tages Touren wieder nach Linz (ca.450km) zurück gegravelt.
        UND mit dem Bericht von PBP
        hast du uns so richtig ,,angefixt,,
        Lg.Chris

        • Gabi Winck

          Hallo Christian, das freut mich … Bericht und Filme gibt es auch von den anderen laaaaangen LEL, 1001Miglia, MGM … und den beiden 2000ern … Siehe home oder my videos
          Wir sind begeistert von allen Längen … IBK hatte ich auch auf dem Programm, war bei der Anmeldung zu spät …
          GlG

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