Frau + Karbon = Randonneur(in) - aber nicht nur ...

Three Peaks Bike Race: Wien – Barcelona

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Zuerst mein Video:

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Blitz! Eins-zwei-drei-vier KRACH!!! 1200m ist das Gewitter entfernt. Der nächste Blitz könnte in nächster Nähe einschlagen. Dass Blitze sich keinen Radfahrer aussuchen – ein Ammenmärchen. Es hat nur 4° Celsius. Und zudem bin nass bis auf die Haut. Und  Ich lege noch einmal einen Zahn zu. Das  Gebäude dort muss ich vor dem nächsten Blitz erreichen. Davor stehen zwei voll bepackte Rennräder. Durch die beschlagene Scheibe kann ich zwei winkende Gestalten erkennen. Schnell stelle ich mein Rad ab. Der Raum ist heimelig warm. Ich geselle mich zu Brian und Pieter, die beiden haben dasselbe Ziel. Wie konnte ich mich schon wieder in so eine Situation bringen? Normalerweise ist man bei einem solchen Wetter nicht auf dem Weg zum Ordino Arcalis in den Andorranischen Pyrenäen. Wir – wo Hermann bleibt? müssen noch ganz hinauf. Der Arcalis ist der dritte Kontrollpunkt des Three Peaks Bike Race. Organisiert von Michael W. (=Adventure Bike Racing).
Das Langstrecken-Radrennen führt von Wien nach Barcelona. Dieses Jahr haben etwa 100 Verrückte diese Herausforderung angenommen die etwa 2100 Kilometer lange Strecke in möglichst kurzer Zeit zurückzulegen. Die günstigste Streckenführung kann selbst gewählt werden. Auflage dabei ist drei Kontrollpunkte anzufahren:
Peak 1: Stilfser Joch an der Grenze Südtirol/ Lombardei
Peak 2: Colle delle Finestre im Susatal bei Turin
Peak 3: Ordino Arcalis in Andorra

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Und da sitze ich nun. Hermann kommt auch. Zum Glück. Er hat die Ruhe weg. Wir brechen wieder auf, denn seit einer Weile ist es ruhig. Nur der Regen prasselt nach wie vor auf den Asphalt. Vor uns liegen noch etwa 200 Höhenmeter und 12 Kehren. Donner grollt in der Ferne. Das Gewitter zieht hin und her. Jederzeit kann es wieder über uns hereinbrechen. Ich beschleunige. Keine Unterstände mehr in Sicht. Was Panik ausmachen kann. Ich lasse die Männer weit hinter mir. Meine Gedanken sind im Hier und Jetzt. Was nachher kommt ist ausgeblendet. Und endlich oben! Gerettet! Foto und rein in das Restaurant.
Die folgende Abfahrt möchte ich möglichst weit von mir weg schieben. Es schüttet immer noch in Strömen bei plus vier Grad. Wir sind völlig durchnässt. Andere sind aber noch schlechter dran. Brian hat unterwegs eine Reifenpanne. Mit den klammen Händen schafft er es kaum die Luftpumpe zu bedienen. Bei diesen Temperaturen kühlt man bei Stillstand sofort aus. Wie soll ich die etwa 20km lange Abfahrt überleben? Ich habe eine glorreiche Idee: Die Rettungsdecke zerschneiden und Alufolienstreifen um die Körperteile wickeln. Und alles drüber ziehen, was sich in der Packtasche finden lässt. Trotzdem klappere ich mit den Zähnen, zittere ich am ganzen Körper und schaffe es kaum, das Rad ruhig zu halten – das Zittern überträgt sich auf den Lenker.
Ich muss doch grinsen. Eine Fahrt der Gegensätze: Wie war das noch am Tag vorher? Die Strecke Avignon-Nîmes-Montpellier in der Mittagshitze. Etwa 40° Gluthitze. Inständig bitte ich immer wieder, dass bald ein Brunnen auftaucht. Tauchbad. Für ein paar Kilometer ist es dann erträglicher durch die weiten Ebenen zu radeln. Bis die Kleidungsstücke wieder trocken sind …
Ablenkung durch Kraft der Gedanken, ich muss wieder lachen, obwohl die Situation todernst ist.
Um der extremen  Hitze (vielleicht) zu entgehen, hatten wir die Idee die Variante „Meer“ einzuschlagen. Wir folgen also der geladenen Strecke. Nach etwa 15km dann ein Fahrverbot für Radfahrer. Das kann doch nicht sein? Was nun? Die ganze Strecke zurück? Nein! Komoot hat die Linie vorgeschlagen. Die Straße scheint relativ neu zu sein. So tun, als ob wir das Schild nicht gesehen haben?… und weiter? Einige Kilometer weiter mündet unsere Straße in eine andere. Autos rasen mit Affenzahn vorbei. Wir warten einen günstigen Moment ab und überqueren die Fahrbahn. Und sind ratlos. Wo sind wir denn da gelandet? Mit einem Mal wird es uns klar: eine Schnellstraße. Zurück ist nun keine Option mehr, zu gefährlich nochmal zu queren. Wir schieben unsere Räder am Straßenrand entlang. Wann wird wohl die Polizei auftauchen? Informiert von besorgten Autofahrern? „Radfahrer auf der Autobahn gesichtet …“ Wie kommen wir wohl aus dieser haarsträubenden Situation wieder raus? Ein Schotterweg mündet nicht weit entfernt in die Schnellstraße. Gerettet. Der Weg führt uns zu unserem Radweg. Das Glück war wohl größer als der Verstand …
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Und so fing diese Fahrt der Gegensätze an. Mit einigen Fehlentscheidungen …

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Wien, 19.07.19 Mein Rad steht voll bepackt da. So viel Zeug … Kann man da nicht gewichtmäßig noch was optimieren? Ich konsultiere das x-te Mal den Wetterbericht und vergleiche die Voraussagen der verschiedenen Wetter-Websiten. Das Wetter verspricht gut zu bleiben. Also raus mit Regenhose, Helm-Regenschutz, warmem langärmeligen Pulli. Auch eine zweite Garnitur Ärmlinge und Beinlinge müssen raus, auch die leichte Daunenwindjacke. Nun ist die Packtasche leichter zu schließen. Stolz bin ich auf meine Entscheidung. Hermann hatte mich davor schon belächelt, dass ich –typisch Frau- viel zu viel Zeug mitschleppte.

Nach den Startvorbereitungen im Café Velobis geht es auch schon los. Nachmittags um vier gibt Michael uns das OK zum Start. Wir wollen die Nacht durchfahren. Zunächst geht es leicht kupiert duch den Wienerwald, vorbei an Sankt Pölten, Amstetten, Ybbs. Wir hatten uns entschieden wenn möglich Radwegen zu folgen. Manch unangenehme Strecke verlangsamte unsere Durchschnittsgeschwindigkeit. Aber besser als Autoverkehr. Vor Linz ging es statt Donau-Radweg durch das Hinterland. Kilometer konnten so eingespart werden, allerdings hatten wir nicht damit gerechnet, dass es unendlich oft rauf und runter ging. Die Detailplanung war wohl doch nicht so sorgfältig gewesen. Bei Enns gönnen wir uns ein nobles Essen im Restaurant. Dann weiter durch die Dunkelheit. Hin und wieder begegnen wir bepackten Radfahrern. Wo die hinwollen? Braucht man um diese Uhrzeit gar nicht zu fragen … Ab und zu am Wegesrand Gestalten eingemummt im Biwaksack. Ach hätte ich doch auch einen solchen mit …
In der Ferne andauernd Wetterleuchten. Da braut sich wohl was zusammen. Und irgendwann höre ich auch den ersten Donner. Wir sind wieder mal auf einem Radweg, der wohl eher für MTB geeignet wäre. Pfützen überall, abgerissene Blätter und Zweige. Und dann ist auf einmal kein Weiterkommen mehr. Ein riesiger Baum liegt quer über dem Weg. Das Unwetter vor uns hatte wohl ganz schön gewütet. Irgendwie schaffen wir es durch das dichte Geäst zu klettern mit unseren Rädern.

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Langsam wird es wieder hell. Das Wetter scheint nicht so schlecht. Wir bewegen uns jedoch auf eine dichte Wolkenschicht zu. Kilometer vor Salzburg -erste Regentropfen. Jetzt ist wohl der Zeitpunkt gekommen die Regenkleidung anzulegen. Regen? Das hatte der Wetterbericht aber nicht vorausgesagt. Und welche Regenkleidung? Außer der Regenjacke hatte ich ja nichts. Mein Göttergatte hingegen ist fein heraus: Regenhose, Helmschutz, lange Handschuhe … Bibbernd fahre  ich weiter, innerhalb kurzer Zeit völlig durchnässt. Fünf Stunden im Regen. Wir treffen Sonia aus Spanien, auch sie ist ähnlich spärlich ausgerüstet wie ich. Die folgende Strecke ist zudem verkehrsmäßig fürchterlich. Die Loferer Bundesstraße. Da Teilstrecken gesperrt sind, wälzt sich der ganze Verkehr von Bad Reichenhall über den Thumsee. Erst ab Sankt Johann ist es wieder ruhiger – auf dem Radweg. Gegen Abend erreichen wir über den Inntalradweg Innsbruck.

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Eigentlich hatten wir damit gerechnet bis zum Abend noch Landeck zu erreichen. Die Regenfahrt hatte unsere Detailplanung nun gleich am ersten Tag verschoben. Bis zum Ende der Tour werden wir der Planung immer ein paar Stunden hinterherfahren. In Pettnau werden wir in einem sehr einfachen Hotel aufgenommen. Das teuerste auf der gesamten Fahrt. Leider gibt es zum Duschen kein Shampoo. Damit hatte ich nicht gerechnet, denn sowas hatte in meiner Packtasche leider nicht mit. Nach vier Stunden Schlaf machen wir uns wieder auf den Weg.

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Es geht auf dem schönen Radweg durch das Oberinntal, bei der Kajetanbrücke nach Martina und weiter nach Nauders und zum Reschensee. Eine rasante Abfahrt nach Prad und schon stehen wir vor dem ersten ernsten Anstieg: das Stilfser Joch.

In der ärgsten Mittagshitze. Die 48 Kehren legen wir also nicht in Rekordzeit zurück, aber die spektakulären Blicke lenken ab und nach knapp vier Stunden sind wir auch oben. Kurz vorher überrascht uns Michael zum Fototermin. Wir wollen noch an Bormio vorbei und irgendwo Richtung Como-See einen Schlafplatz suchen. Der ursprüngliche Plan bis zum Anfang des Como-Sees zu kommen, geschweige denn nach Como hatte sich ja schon lang zerschlagen.

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In Tirano finden wir Unterkunft im Hotel Corona. Wir beschließen noch eine Kleinigkeit essen zu gehen in der benachbarten Bar. Und welche Überraschung: Davor stehen zwei bepackte Räder – drin sitzen bei Cola und Foccaccia Torsten Frank  (schaut mal rein auf seinen berühmten Blog!!!) und Malte. In fröhlicher Runde beenden wir den Abend. Am Morgen die Überraschung: Wir kommen nicht aus dem Hotel. Aufzug und Tür zum Ausgang funktionieren nicht. Wir quetschen uns durch ein Hotelfenster. Der nächste Schreck: Das Gitter zur Garage scheint zu zu sein. Ein Rütteln daran … zum Glück nur angelehnt.

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Die Weiterfahrt im Dunkeln ist recht mystisch. Es geht entlang des Valtellina-Radweges. Allerhand Tiere kreuzen unseren Weg. Aufgeschreckt – beidseitig. Irgendwann im Stockfinsteren ein Geräusch. Ein Radfahrer und noch einer … Dunkle Hautfarbe und kein Licht. Das sind wohl „Schwarzfahrer“ im doppelten Sinne.
Der Como-See wird im Morgendämmern erreicht. Die Weiterfahrt entlang des West-Ufers ist kriminell. Die Straße ist relativ schmal, es gibt keinen Seitenstreifen, aber sehr viele LKWs, die sich ohne zu bremsen an uns vorbei drücken. Um die Mittagszeit ist dann Como erreicht. Nach einer Supermarkt-Pause geht es in der Gluthitze weiter.
Auf einmal überholt uns eine Gruppe rot-weiß gekleideter Rennradler. Und dann noch eine Gruppe. Es hört nicht auf. Da muss wohl irgendwo ein Nest sein … Ich schwätze mit einem Fahrer. Sie sind aus Hall in Tirol und auf der Fahrt nach St. Tropez. Sie wollen unterwegs die Tour de France sehen.
Später stellt sich heraus, ich hatte mit Kurt Matzler gesprochen (Mehrmaliger RAAM-Finisher). Welch ein Zufall.
Der Verkehr ist zum Teil horrend. Ich bin erleichtert, als es wieder auf einen Radweg geht. Zu früh gefreut. Die Streckenführung entlang des Flusses Olona entlang einer alten Bahnlinie ist zwar wunderschön, aber nicht grad gut geeignet für unsere Rennräder. Und eine Ausweichroute finden wir so schnell auch nicht. Bei Busto Arsizio darf ich drei Kilometer zurück fahren, da Hermann eine Reifenpanne hat und ein Taschenmesser braucht, das ich mitführe. Hmmhmmm!

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Vor Novara sehenswert das mittelalterliche Castello Sforzesco in Galliate.
Vercelli. Chivasso. Settimo Torinese. Die Straße zieht sich unendliche durch Reisfelder. Es ist viel Verkehr. Mir ist langweilig. Ich beginne ein Spiel zu erfinden, das mir die Zeit auf allen verkehrsreichen Straßen vertreiben wird und mich ablenkt von meiner Angst unter die Räder von irgendeinem LKW oder sonstigem Fahrzeug zu geraten. Ein Schwerfahrzeug naht? Kann ich aus dem Geräusch lesen, ob er einen oder gar zwei Anhänger hat? Oder bei kleineren Verkehrsteilnehmern … sagt der Ton was über die Farbe aus? Hahahaaa … Welche Hirngespinste!! Oder: Wenn fünf weiße Autos in Folge an mir vorbeifahren, dann finden wir ein hübsches Hotel. Oder …

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Nach Turin beginnen wir bei einer Pizza mit der Herbergsuche. Anstatt wie geplant in Bussoleno oder gar nach dem Colle delle Finestre (die Diskussion hatten wir ja schon) drängt die Zeit schon kurz nach Turin, am Eingang des Susa-Tales. Wir werden auch bald fündig. Der Agriturismo „La Sforzata“. Ein wunderbares Ensemble. Ein umgebauter und sehr modern eingerichteter  „fienile“. Die Wirtsleute nehmen uns trotz später Stunde sehr freundlich auf. Das Frühstück ist sagenhaft. Hierher müsste man mal mit mehr Zeit zum Genießen kommen. Früh um fünf rollen wir über das Susa-Tal ein. Dann wird es ernst. Die Anstiegsrampe zum Colle delle Finestre hat ganze 16%. Aua!! Über die folgenden unendlich vielen Kehren geht es gemütlicher. Dann Schotterpiste über mehrere Kilometer. Die Piste verlangt volle Konzentration. Nicht nur einmal schmeißt es mich von meinem Drahtesel, wenn die Räder sich wieder mal ein einen Steinhaufen gebohrt haben. Irgendwann dann sind wir oben auf unserem Peak 2. Feine Abfahrt, Einkehr zu Foccaccia und Cola. Die weitere Streckenführung habe ich nicht so im Kopf. Und werde unangenehm überrascht. In der Mittagshitze folgt ein weiterer Berg. Nach Sestriere. Dann Abfahrt nach Cesana Torinese und noch ein Berg. Von weitem sehe ich schon die Straße sich den Hang hinaufschlängeln und Galerien sind zu erkennen. Überraschend angenehm ist der Aufstieg, denn für die Radfahrer gibt es einen eigenen Tunnel. Bald ist Mongenèvre erreicht. Boulangerie-Pause. Abfahrt nach Briancon. Ein großes Stück Richtung Embrun

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 geht es nun auf einer stark befahrenen Straße weiter. Zum Glück gibt es einen relativ breiten Seitenstreifen. In der Ferne braut sich ein Unwetter zusammen. Die Strecke führt uns über einen Radweg genau auf das Wir müssen das Ärgste in einem Bushäuschen abwarten. Dann wählen wir eine Strecke über einen Radweg. Der klingende Name „les balcons de la durance“ verspricht schon wieder einige Höhenmeter. Ich fürchte mich vor den Blitzen. Embrun ist erreicht, wir finden noch einen geöffneten Supermarkt. Nun ist es wieder an der Zeit eine Unterkunft zu suchen. Aber Fehlanzeige. Die Menschenmassen im Ort, Autos mit Aufschriften von Fernsehsendern lassen es uns erahnen. Die Tour de France hat uns erreicht. Am Nachmittag war der Tross in Gap angekommen. Embrun sollte am nächsten Tag durchfahren werden von der Tour. Die Anfrage in einigen Hotels lässt unsere Ahnung zur Gewissheit werden. Wir müssen weiter ohne etwas gefunden zu haben. Wir treffen Rinaldo Toson, dessen Teampartner „das Handtuch geschmissen hatte“.

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Wir fahren gemeinsam in die Dämmerung hinein. Ich halte Ausschau nach einer Möglichkeit unser Nachtlager aufzuschlagen. Wir haben nicht mal eine Minimalausrüstung. Das kann ja heiter werden. Übermüdet bin ich allemal. In den letzten Nächten hatten wir ja auch je nur eine Mütze voll Schlaf. Am Straßenrand bieten sich Stoppelfelder an, wahrscheinlich wenige angenehm. Parks ziehen vorbei in grellem Scheinwerferlicht, auch wenig einladend. Kilometerweit nichts nichts nichts. Da! Ein kleiner Park neben einer Kirche, Büsche, eine kleine Rasenfläche. Wie wäre es damit? Kurz entschlossen entfalten wir unsere Notfall-Decken und wickeln uns in die knisternde Aluminiumfolie ein. Es fröstelt mich bald mal, denn eine unangenehm kühle Brise bläst immer wieder durch meine Alu-Zudecke. Zwei Stunden, dann geht es weiter. In Kürze müssen wir uns entscheiden: entweder das Durance-Tal weiter, 30 km mehr, dafür kaum Höhenmeter oder rechts ab und durch den hügeligen Luberon Nationalpark.

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Wir entschließen uns für Letzteres. Kein Auto weit und breit. Die Landschaft im Dunkeln lässt sich nur erträumen. Erträumen? Die Müdigkeit holt mich ein. Ein Mäuerchen muss als Bett herhalten. In der Dunkelheit seltsame Geräusche. Irgendwas galoppiert vorbei. Wir ziehen weiter. Düfte umwehen uns. Was ist das? In der Dämmerung kann ich es erkennen: Lavendelfelder. Ach ja, wir sind ja in der Provence. Ein nächster Anstieg. Ich bin wieder so schläfrig. Ich habe plötzlich das Gefühl, dass ich was geträumt habe. Eine Sekundenschlaf-Attacke? Wir erreichen die Anhöhe des Col de l’Homme Mort. Wenn ich mich jetzt vor der Abfahrt nicht kurz die Augen zumachen kann, dann muss der Pass wohl umbenannt werden in Col de la Femme Mort …

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Auf der Weiterfahrt tritt plötzlich ein hoher weißer Berg vor unser Auge. Wouw! Der Mont Ventoux. Der „Gigant der Provence“ hat im Radsport eine große Bedeutung und gehört mit dem Col du Galibier, dem Col du Tourmalet und dem Anstieg hinauf nach L’Alpe d’HUez zu den „heiligen Bergen“ der Frankreich-Rundfahrt.  Zum Glück aber auch ein wenig „leider“ müssen wir da nicht hinauf.
In Sault tritt das ein, was ich schon lange erwartet hatte: Hermann und ich verlieren uns. Das passiert manchmal schon wenige Meter von der Haustür entfernt … Zum Glück gibt es Handy und Empfang. Hermann muss leider ein paar Kilometer und Höhenmeter zurück fahren zum Frühstück mit Gabi.
Anschließend geht es am Fuße des Ventoux entlang. „Route fermée“ – oje! Wo sollen wir denn jetzt lang, wenn die Straße gesperrt ist? Einige Radfahrer, die aus der anderen Richtung kommen geben Entwarnung. Man kommt gut durch. Aber wie … Die Straße ist über zig Kilometer mit feinem Split bedeckt. Das bedeutet voll konzentriert nahezu im Schritt-Tempo fahren. Und es wird heißer und heißer. Endlich erreichen wir wieder eine normale Straße und ein Dorf. Es ist unerträglich heiß. Avignon mit seiner wunderbaren Kulisse lassen wir hinter uns. Den restlichen Tag werden wir uns von Brunnen zu Brunnen hangeln und die Episode „Meer“ erwartet uns. Ordentlich schlafen werden wir nach unserer abeteuerlichen Meeranfahrt und anschließender Radwegodyssee. Hermann hat in Sète am Etang Thau ein Hotel ausgemacht. „Nur“ noch 40 km trennen uns von unserm Bett. Bis 22 Uhr sollten wir dort sein. Bei Sonnenuntergang wird der Radweg bevölkert von Hundertschaften von Badegästen, die nach Hause wollen und von uns. Durchkommen schwierig. Langsam fahren bedeutet zudem Opfer von Millionen hungriger Moskitos zu werden. Ich bekomme langsam Stress. Das schaffen wir nie in der Zeit. Als Hermann irgendwann mal auf mich wartet, geraten wir uns das einzige Mal auf der langen Fahrt in die Haare. Ich murre, er solle doch nicht warten, sondern vorausfahren zum Hotel, ich könne den Weg mit meinem GPS schließlich alleine finden. Verärgert zieht mein Teampartner von dannen. Als ich Sète erreiche irre ich lange durch die Straßen. Mit Google Maps stehe ich wohl auf Kriegsfuß. Es führt mich immer wieder kreuz und quer. Erst als ich mich mit Händen und Füßen bei den Passanten durchfrage, lande ich an der richtigen Adresse. Die Frau an der Rezeption war so nett gewesen fast eine Stunde auf uns zu warten.

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Wieder geht es weiter in aller Frühe. Die Catalanischen Pyrenäenausläufer liegen vor uns. Entlang des Flusses La Têt folgt nun der letzte lange Anstieg vor Andorra. Durch das Tal verläuft auch eine spektakuläre Bahnlinie, scherzhaft die „Pyrenäenmetro“ genannt. Vorbei an hoch liegenden Klöstern und durch malerische Dörfchen bin ich so abgelenkt, dass ich gar nicht bemerke, dass wir in Richtung einer bleischwarzen Wolkenwand fahren. Und schon beginnt es zu regnen. Ich mit meiner mageren Ausrüstung bin wieder mal arm dran, denn ein kalter bissiger Wind beginnt uns schnell auszukühlen. Ich beginne mir langsam Sorgen zu machen, dann abgesehen davon, dass wir schon wieder sehr spät dran sind für eine Unterkunft, hat Hermann inzwischen recherchiert, dass es den gesamten nächsten Tag regnen würde. Unser Aufstieg zum Arcalis im Regen? Wie wird die Temperatur auf über 2000m Meereshöhe sein? Wird das ein DNF werden?
In La Seu d`Urgell finden wir Unterkunft im Hotel Nice. Nachts regnete es zwar, aber am frühen Morgen bei unserem Aufbruch sieht es nicht mal so schlecht aus. Bald passieren wir die Grenze zu Andorra. In Andorra la Vella ist gegen 6 Uhr morgens noch die Hölle los. Alle jungen Leute der Gegend scheinen noch auf den Beinen zu sein. Wir finden den richtigen Weg nicht. Vor dem Tunnelportal ein Verbotsschild für Räder. Als gebrannte Kinder reagieren wir nun sensibel auf Verbotsschilder. Also zurück und weiter zum anderen Tunnel. Auch hier ein Verbotsschild. Ratlosigkeit. Was tun? Der Radweg hört hier auf … Das bedeutet, Radfahrer werden hier doch weiter fahren können, oder? Wir tauchen ein in den Tunnel. Mindestens drei Kilometer ist er lang. Das schlechte Gewissen wird schwächer und schwächer, kein Auto weit und breit. Auf der Weiterfahrt nach Ordino wird der Himmel immer schwärzer. Und es fallen die ersten Regentropfen. In der Ferne grollt es … wie es nun weiter geht, habt ihr ja schon am Anfang gelesen …

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Nach dem Arcalis-Schlechtwetter-Abenteuer wurde das Wetter immer besser je weiter wir nach Süden fuhren. Und als dann die Sonne wieder herauskam war es heiß wie eh und je. Hinter uns häuften sich die Wolken und vor uns blauer Himmel. Landschaftlich wunderschön und mit relativ wenig Verkehr ging es entlang des Oliana-Stausees. Die Abzweigung Richtung Solsona brachte eine mühsame Steigung. In dem Örtchen wollten wir eine Supermarkt-Pause einlegen. Und das war super geplant, denn genau bei Erreichen der Ortschaft hatte sich hinter uns eine Wolkenfront zusammengebraut und ein starkes Gewitter legte los. Der Spuk war jedoch bald vorbei und wir konnten weiter nach Manresa. Dort begann nämlich die letzte Etappe und diese war vom Veranstalter vorgegeben. Aber in ständigem Auf und Ab zieht sich der vorletzte Streckenabschnitt noch ziemlich. Bei Dämmerung erreichen wir den Fuß des Monserrat-Gebirges. Ein wunderbares Schauspiel bietet sich uns. Und voller Hochgefühle nur noch 88 Kilometer zum Ziel zu haben macht es uns im Moment gar nichts aus schlaflos in die Nacht hineinzufahren. Zu schön die Ausblicke auf die gewaltigen Felsen. Erste Ermüdungserscheinungen folgen dann auf der Abfahrt nach Monistrol de Monserrat. Und der folgende Anstieg scheint nicht mehr enden zu wollen. Sorgen macht mir vor allem die kommende Abfahrt. Sobald die Beine nicht mehr strampeln, ist die Gefahr eines Sekundenschlafes groß. In Terrassa am Fuße des Berges machen wir eine kurze Pause. Kaum hat Hermann sich hingelegt für eine Minischlafpause, ich war noch beim „Herumknestern“ in meinem Gepäck, da kommen zwei Radfaherer  des Weges. Es ist Philipp mit einem befreundeten Radfahrer, der in Barcelona lebt. Wir schließen uns den beiden an, heilfroh, dass uns jemand durch die Großstadtstraßen führt. Das Fahren durch die unzähligen Kreisverkehre und Ampelregelungen hätte mich nämlich total überfordert. Der letzte Berg, das

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Wahrzeichen Barcelonas, der Tibidabo, ist schnell erklommen. Ein Traumblick auf die nächtliche Stadt belohnt uns für alle unsere Entbehrungen in den vergangenen sieben Tagen. Ein Katzensprung noch zum Ziel unter dem Arc de Triomf. Michael W. vom Adventure Bike Racing erwartet uns mit einem kühlen Bier zum Fototermin. Ein super schönes Event ist schon zu Ende. Danke Michael!
Danke an meine bessere Hälfte Hermann, dass ich mit ihm diese Verrücktheiten machen kann!!
Danke auch an alle Mitfahrer. Es war wie immer schön neue Leute kennen zu lernen, die dieselbe Leidenschaft haben. Ein Schwätzchen hier und dort (mitunter unter Zuhilfenahme von Händen und Füßen – was während des Radfahrens schwierig ist …) hat mir aber wieder mal gezeigt, dass es höchste Zeit ist besser Englisch zu lernen … das ist vermutlich für mich die größere Hürde wie 2000 Kilometer mit dem Rad zurück zu legen …
… und 2020 … vielleicht könnten wir das wieder? (Ja, wir waren Wiederholungstäter … HIER: Der Schmerz vergeht, der Stolz bleibt …)

(Dolomitenartikel rechts, 24.08.19)

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7 Kommentare

  1. Irene

    Super Leistung!! Ein Wahnsinn! Ihr seid ein tolles Paar!

  2. Betti Sibold

    Gratuliere zu dieser Wahnsinns Leistung!!
    Schôner Bericht, danke dafür..

  3. Torsten

    Vielen Dank für den schönen Bericht! Ich habe zweimal täglich geschaut, wo Ihr Unterwegs seid. Das war richtig spannend.

    • gabiwinck

      Wir verfolgen auch immer mal bekannte beim tcr oder transamerica bikerace.. Ist spannend, ja. Aber noch spannender ist selber fahren.. Adventure bike racing hat ein paar interessante Events im Angebot. Ich glaube das 3peaks ist noch das harmloseste… LG

  4. Torsten

    „Aber noch spannender ist selber fahren“.

    Da möchte ich Dir nicht widersprechen, aber für mich ist das noch eine Hausnummer zu hoch. Jetzt fahre ich erstmal PBP und dann möchte ich einige Brevets von Deiner Homepage auf meiner ToDo-Liste abfahren. Danke, dass Du überall den Track dazu bereitgestellt hast!

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