Von Hundebissen und mitternächtlichen Schneestürmen …
Mit dem MTB von der Côte d’Azur nach Thonon-les-Bains am Genfer See – 1050 Kilometer und 32.800 Höhenmeter über die Berge entlang alter Militärwege, der Via del Sale, in Angesicht des Königs der Berge, des Mont Blanc, über mehrere namhafte Pässe – das ist Alps Divide. Die Herausforderung nahm ich als Solo-Fahrerin an und machte mich mit meinem Trek Prokaliber und meinem Mini-Zelt auf den Weg.
Nach Panceltic Ultra und Lakes ’n‘ Knödel sollte das der krönende Saisonabschluss werden.
Der Start in Menton, dem entzückenden Côte d’Azur Örtchen, fühlte sich so harmlos an. Niemand konnte vorausahnen, welche Schwierigkeiten sich den rund 90 Teilnehmerinnen und Teilnehmern in den Weg legen würden und wie wenige das Ziel sehen sollten … (hier meine Gedanken vor dem Rennen & Planung)
zuerst mein Video:
Das war das Rennen auf Followmychallenge und Dotwatcher
Start Samstag, 7.September 2024
Section 1 von Menton nach Tende (211 km/ 6370 Hm)
Bei sommerlicher Hitze geht es pünktlich um 16:00 nach einem kurzen Briefing los, zunächst polizeibegleitet an der palmenbestandenen Küste entlang, dann in der prallen Hitze, bei über 30 Grad den Hang hinauf. Ich fühle mich wie kurz vor einem Hitzekollaps. Das Wetter verspricht zumindest im Moment stabil zu sein, das Feld zieht sich bald auseinander und ich radle allein dahin.
Das erste Mal schaue ich hoch zum Himmel, als Donnergrollen zu hören ist, dunkle Gewitterwolken hatten sich da zusammengebraut. Und das schon kurz vor Sospel. Das hatte ich nicht erwartet. Ebenso nicht die ruppige Abfahrt über einen steinigen und gefurchten Weg. Die Bäume bieten scheinbar Schutz, zumindest vor dem Regenguss, der nun einsetzt. Regenzeug raus. Am Brunnen in Sospel trifft sich eine größere Gruppe. Also bin ich doch nicht allein. Ich radle weiter. Im Regen. Es dämmert langsam. Die Strecke führt -was ich im Dunkeln erkennen kann- schön am Fluss Roia entlang.
Bis die Strecke abzweigt und nach unmenschlich steilem Anstieg an Verrandi vorbei schlussendlich einem alten nicht gepflegten Militärweg folgt. “Achtung, felsig!” schreiben Katie und Lee, die Organisatoren. Ich schiebe mein vollbepacktes Rad einige Kilometer nach oben, da es mich immer wieder ungnädig aus dem Sattel wirft. Als Leona mich fahrenderweise überholt, versuche ich es auch wieder.
Immer wieder aber hike & bike Passagen. Das hatten wir doch kürzlich schon mal beim Lakes ‘n’ Knödel. Es geht auf Mitternacht zu. Mein Entschluss auch in der ersten Nacht zu biwakieren, setze ich in der Nähe eines verfallenen Stallgebäudes in die Tat um. Ich stelle mein Zelt auf, verliere aber viel Zeit damit, einen Hering im tiefen Gras zu suchen, den es aus der Verankerung gerissen hatte und weg katapultiert. Ohne diesen könnte ich mein Zelt nicht mehr aufstellen. Mein Tun muss ansteckend sein, denn innerhalb kurzer Zeit wird das Gebäude bevölkert und stehen weitere zwei Zelte in der Nähe. Ein Campingplatz sozusagen.
Sonntag, 8. September 24
Schon vor Dämmerung fahre ich weiter. Rechts im Wald ein Geräusch. Was war das? Eine Art Grunzen. Bevor ich mir weiter Gedanken machen kann, galoppiert vor mir von Links nach Rechts ein jugendliches Wildschwein über den Weg. Schnell weg! Bevor Wildschwein-Mama mir Böses will.
Nachts auf der alten Military Road ist es manchmal richtig unheimlich. In Pfützen spiegelt mich mein Vorderlicht und irrlichtert durch die Bäume. Mir fallen ein paar Gedichtzeilen von Droste Hülshoff ein: O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn … bei mir hier: schaurig ist’s allein durch denn Wald zu fahrn …
Irgendwann ist auch der schlechte Militärweg zu Ende, nur um von einer noch steinigeren Abfahrt abgelöst zu werden. Kurz vor Pigna holt mich Jo ein und wir wechseln ein paar Worte. Wir werden uns in den nächsten Tagen noch mehrmals treffen.
In Pigna, einem kleinen italienischen Dörfchen, ist glücklicherweise die Pasticceria geöffnet. Heute ist ja Sonntag. Ich decke mich Brioche und anderem Gebäck ein, bestelle zum Mitnehmen was Herzhaftes, Pizza. Frisch gepresster Orangensaft und der übliche Latte Macchiato (ihr wisst schon: mit zwei Zucker) runden das Ganze ab. Ich komme mit Chris, einem deutschen Radfahrer, ins Gespräch. Für ihn ist das Rennen hier schon zu Ende. Ihm war am Abend zuvor sein Rad gestohlen worden. Schock! Ich bin unterwegs nämlich meist nachlässig, was Rad-Abschließen betrifft. Ich habe sowieso nur eine “Wegfahrsperre” mit, sprich ein dünnes Kabelschloss. Wohl kein Hemmnis für ernsthafte Diebstahlambitionen.
Auf Teer geht es nun viele Kilometer und Höhenmeter hoch. Regen ist angesagt. Ich quatsche mit Jo und Martin und achte kaum auf das Wetter. Regen ist vorausgesagt und schon fallen die ersten Tropfen. Diese arten bald aus in einen ordentlichen Regenguss. Dann der erste Blitz. Krampfhaft zähle ich die Sekunden. Das Gewitter ist nur wenige Kilometer entfernt. Ich bekomme “Beine” und beeile mich. Die schützende Hütte ist nicht mehr sehr weit weg. Außer Atem muss ich bald mein Tempo drosseln und füge mich in mein Schicksal. Vielleicht sieht der Blitz mich nicht, noch bin ich unterhalb der Waldgrenze. Trügerisch.
Am Ende der Teerstraße ein Ristorante. Hierhin haben sich einige Leute hin gerettet. Torsten und Stuart sind schon wieder beim Aufbrechen. Der Chef des Hauses hält davon nicht viel, die kommenden etwa 80 Kilometer über die Alta Via del Sale führt in Höhen über der Waldgrenze und bietet keinerlei Unterstandmöglichkeiten. Und es regnet weiter und lokale Gewitter sind vorausgesagt. Die Zimmer sind allerdings ausgebucht. Ich könnte es in der benachbarten CAI-Hütte versuchen. Bingo! Das Rifugio Allavena hat verfügbare Lager. Mir schwebt nämlich vor den Nachmittag über zu schlafen und gegen Abend, bei Nachlassen des Regens, wieder loszufahren.
Die netten Hüttenwirtsleute kümmern sich sehr nett um uns, eine Gruppe, die inzwischen auf über 10 Leute angewachsen ist. Es gibt Duschen und dann leckeres Mittagessen. Am fröhlich knisternden Bollerofen trocknen inzwischen kiloweise durchnässte Kleider und Schuhe. Dann Mittagsschlaf. Oder besser Mittagsruhe, denn schlafen kann ich um diese Zeit nicht.
Wie vorausgesagt hört der Regen gegen 18 Uhr auf und ich mache mich fahrbereit. Die Hüttenleute versuchen mir mein Vorhaben auszureden, denn in der Dunkelheit diese Strecke zu fahren sei riskant. Sie müssen es wissen. Ich aber bin uneinsichtig und entschwinde vollbepackt in die Dunkelheit. Ich bin noch keine 500 Meter weit gekommen, da mündet der Fahrweg in einen steilen steinigen Weg und verspricht einiges an Schieben. Das hatte Stuart vorausgesagt, als er nach seinem Aufstieg zum Passo Tanarello nochmal zur Hütte zurück musste, weil er seine Dokumente unterwegs verloren hatte. Der Arme! Ein ungemütlicher Wind bläst mir entgegen und im Lichtkegel meiner Helmlampe kann ich erkennen, dass es wieder angefangen hat zu regnen. Ein Spruch kommt mir in den Sinn: “Man soll nichts machen, um andere zu beeindrucken, sondern nur das, was einen selbst glücklich macht”. Kurzerhand wende ich mein Rad. Applaus der Hüttenleute und der anderen Alps Dividler brandet mir entgegen, als ich wieder durch die Tür trete.
Ich bin grad zurecht für das mehrgängige Abendessen und dann schließe ich den Reißverschluss meines Schlafsackes.
Montag, 9. September 24
Ich wache gegen ein Uhr auf und begebe mich ans Frühstücksbuffet, das die Hüttenwirtsfamilie netterweise hergerichtet haben, damit jeder starten kann, wann er will. Das Pair Kate und James und zwei Mädels sind schon aufbruchbereit. Ich folge ihnen eine Stunde später. Vor dem Wegfahren habe ich die glorreiche Idee meinen Reifendruck etwas zu vermindern. Klasse Fahrgefühl! (Die knapp 3 Bar waren viel zu viel; am ersten Tag mit einigen Teer-Kilometern vielleicht nicht schlecht, aber im Gelände … kein Wunder, dass es mich wie einen Prellball rumgeworfen hat).
Nach dem ersten Berg folgt eine längere Abfahrt über Almgelände, was ich am gelegentlichen Glockengeläute höre. Hundegebell. Etwas Braunes schießt vor mir aus dem Wald und verschwindet sofort auf der anderen Seite. Einige Kilometer weiter muss ich vom Rad steigen. Ein mittelgroßer brauner Hund pirscht sich von hinten knurrend an mich heran, die Nackenhaare aufgestellt. Keine Schafe oder Kühe weit und breit, aber leere Stallungen.
Ich spreche mit dem Tier und begebe mich auf die andere Seite meines Rades. Der Hund ebenso. Dann wieder zurück. Hund auch. Ich rede freundlich weiter und nestle einen Keks aus meiner Tasche, halte es ihm hin als Beweis meiner friedlichen Absichten. Hund schnuppert nur kurz daran, verschmäht die Leckerei allerdings. Ich mache nach Minuten einen vorsichtigen Schritt nach vorne und spüre was an meinem linken Knöchel, so als wäre ein kleiner Stein gegen mein Bein geprallt, aber da waren keine Steine … das werden wohl die Hundezähne gewesen sein. Ich begebe mich wieder auf die andere Seite. Hund auch.
Ein weiterer zaghafter Schritt nach vorn und die Zähne graben sich tief in mein Bein. Mein Angreifer springt gleichzeitig nach hinten und lässt mich gehen. Mit zitternden Knien verschwinde ich hinter der nächsten Kurve, dort packe ich erst mal mein Erste-Hilfe-Set aus und desinfiziere die blutende Wunde. Aua! Ein Pflaster darüber. Glücklicherweise bin ich gegen Tollwut und Tetanus geimpft und mache mir im Moment keine Gedanken. Aber immer, wenn ich in der Ferne Bellen höre, steigt Panik in mir auf und das wird in dieser Nacht und am nächsten Tag noch oft passieren. In der Dämmerung komme ich wieder mal bei Schafen vorbei. Kein Hund. Weiter unten eine Ziegenherde, aber der Hirte ist auch da.
Beim Mauthäuschen am Beginn der Alta Via del Sale stellt mir der freundliche Kassier seinen SOS-Notfall-Set zur Verfügung und ich kann die Wunde, die immer noch stark blutet, nochmal reinigen und abdecken. Durch die andauernde Bewegung beim Pedalieren hat die Biss-Stelle keine Ruhe. Der Mann erzählt mir, dass in der Nähe kürzlich erst noch wer gebissen wurde.
Ich fahre weiter und freue mich auf die Alta Via del Sale bei wunderschönem Wetter. Die Sonne geht grad auf. Mein Hochgefühl dauert nicht lange, dann wieder Hundegebell, von vielen Hunden. Und schon springt eine ganze Meute riesiger weißer Tiere der Gattung pastore maremmano auf mich zu. Ich in Windeseile vom Rad. Erleichterung, als die Tiere zurückgerufen werden.
Die nächsten vielen Kilometer auf dem berühmten alten Militärweg sind atemberaubend schön. Das Rifugio Don Barbera lasse ich rechts liegen in der Annahme, es sei nur eine kleine Almhütte. Aber ich habe eh noch Wasser und Proviant genug.
Bei einer kurzen Ess-Rast entdecke ich, dass meine Lenkertasche “geflutet” ist vom Regen am Vortag. Meine Powerbank liegt komplett im Wasser. Die ist wohl “hinüber”. Ich kann zwar meine Geräte mit dem Pufferakku, der vom Nabendynamo gespeist wird, laden, aber das ist nicht so einfach. Bei Dunkelheit geht das nicht, da der Dynamo die Vorderlampe speist und beim Bergauffahren wird zu wenig Strom erzeugt. Ich muss also den ganzen Tag gut planen, wann ich ein Gerät anschließen kann zum Laden. Und jetzt ist auch noch meine eiserne Stromreserve futsch …
Dann wieder belebtere Gegend bei Limone Piemonte. Hier war ich vor einigen Jahren zweimal bei einem Berglauf, dem Grand Raid Cro-Magnon, das einmal abgebrochen wurde wegen Schlechtwetters und nächtlichem starken Schneefall auf der Strecke. Ich erinnere mich zurück, nichts ahnend, was auf mich noch zukommen sollte ein paar Tage später.
Dann Abfahrt nach Tende. Aber nicht auf der spektakulären Colle di Tenda – Pass-Straße, sondern auf einer sehr sehr ruppige Schotterpiste und mich ziemlich durchrüttelt. Die Handgelenke schmerzen bald sehr.
Section 2 von Tende zum CP1 Refuge Hotel de Bayasse (196 km/ 5650 Hm)
Ab Tende aber belohnt eine 20 Kilometer lange schnelle Asphaltabfahrt mit Rückenwind. Eis- und Latte Macchiato-Pause an der Tankstelle und dann rein nach Saint Dalmas de Tende. Hier gibt es einen Supermarkt und eine Apotheke. Die Apothekerin verarztet mich nochmal, meint aber, ich solle doch besser zum Arzt wegen der Infektionsgefahr. Sie ist so nett und verschafft mir einen Termin. Bald bin ich aus dem Hospital wieder raus mit einem Rezept für ein Anti- und einem Probiotikum.
Nachtrag zur Verständigung in Frankreich. Ich kann kein Französisch, beispielsweise die Angestellten in der Apotheke können nur Französisch. Sie konnten auf jeden Fall nicht gut genug Englisch, um mein nicht gut ‘genuges’ Englisch zu verstehen. Aber der Translater tut gute Dienste. Ich spreche auf Deutsch rein, es kommt auf Französisch raus und umgekehrt sie sprechen auf Französisch rein und es kommt auf Deutsch raus und alles ist paletti.
Im Supermarkt treffe ich auf die meisten der lustigen Hüttenrunde einen Tag zuvor. Gemeinsam radeln wir Richtung Col Turini. Als ich Jo meine Verarztung zeige, erzählt sie, dass sie ebenfalls gebissen wurde. Sie wird erst am nächsten Tag beim Arzt vorbei schauen.
Ich entsorge meinen Müll und schweren Herzens meine Powerbank.
Ein Straßenschild weist nach Rechts, Sospel, Menton. Wie verführerisch. Mindestens 5 Tage habe ich noch vor mir. Wenn die so ähnlich sich zeigen, wie die letzten beiden Tage, dann wird das wohl eines der härtesten Events werden. Wie gut, dass ich hier noch nicht weiß, wie sich das Ganze entwickeln wird … Am besten nur schrittweise vorausdenken, also jetzt mal nur bis zum nächsten “Zeltplatz”.
Samstag und Sonntag war ich so mit dem Fortgang des Rennens beschäftigt, dass ich mir nicht vorstellen konnte irgendwann mal etwas in die Aufnahme-App zu sprechen, nun ist aber alles etwas ruhiger und gemütlicher, schneller geht es eh nicht und ich kann nebenbei etwas quatschen. Die Erinnerungen an die einzelnen Tage verblassen nämlich sehr schnell.
Meine Gedanken schwadronieren. Ich überlege mir, ob ich nicht auch Wolfsgegnerin werden sollte. Denn die Wölfe sind Schuld, dass ich heute so viel Zeit im Hospital verplempert habe. Gäbe es keine Wölfe, bräuchte es keine Hirtenhunde …
26 Kilometer und 1700 Höhenmeter lang ist der Aufstieg. Es wird langsam Nacht. Ich habe noch keine Idee, wo schlafen. Unterwegs entdecke ich das Zelt von Kate und James, dem Pair. Schlagartig merke ich, wie müde ich auch schon bin. Seit meinem Aufbruch im Rifugio Allavena sind nun gut 19 Stunden vergangen, allerdings mit nur 130 Kilometer und 4000 Höhenmetern, was wohl auf den nicht einfachen Untergrund zurückzuführen ist.
Aus dem Bikepackerleben gegriffen: Abfahrt, alles anziehen, dann wenn die Sonne kommt, wird es warm, Ärmlinge und Beinlinge weg und irgendwo hinstecken. Easy zu merken, Beinlinge kommen dahin, Armlinge dorthin, es gibt ja nicht viele Möglichkeiten, die Lenker-Rolle, die Tasche hinten oder seitlich. Ich merke mir morgens, die Ärmlinge sind in der Rolle links, Beinlinge in der Rolle rechts. Am Nachmittag suche ich zuerst in der hinteren Tasche, dann in der Seitentasche und dann fällt mir ein, ich könnte auch in der Rolle schauen. Ich muss mir unbedingt ein System ausdenken, dass gewisse Sachen immer an denselben Ort gepackt werden.
Wider Erwarten mündet der geschotterte Fahrweg (“Fahr”???) in einer asphaltierten Straße. Weit ist es nicht mehr auf den Colle. Und hier DER ideale Schlafplatz. Eine kurze steile Böschung muss ich erklimmen, darüber ein wunderbarer ebener Platz unter einer Lärche. Ich entscheide spontan, hier zu bleiben und stelle mein Zelt auf.Über mir ein herrlicher Sternenhimmel. Eine leichte Brise führt dazu, dass auch keine nasskalten Nebel sich über meine Schlafstatt legen. Es ist wirklich gemütlich.
Dienstag, 10. September 24
Nach kurzem erholsamem Schlaf breche ich wieder auf. Bald bin ich auf dem Col Turini und gehe in die Abfahrt ins Vésubie-Tal. Die ist allerdings nicht so cool. Es ist ungemütlich kalt, der Weg zum Teil auf nassem und rutschigem Waldboden. Es ist zappenduster, wenn mir hier die Lampe ausfallen würde, nicht auszudenken, ich habe ja auch die Powerbank nicht mehr. Irgendwo Hundegebell. Mir sträuben sich schon die Nackenhaare. Es dämmert endlich. Lissa überholt mich. Ich fahre abwärts eher verhalten. Um kurz vor sieben treffen wir uns vor der Boulangerie in La Bollene. Gut getimt, diese sperrt gerade auf. Und wie leckere Dinge es hier gibt. Ich decke mich fürs Frühstück und untertags ein. Lissa erzählt, dass ihr Smartphone ähnlich wie meine Powerbank die Regengüsse vom Sonntag nicht überlebt hat und nicht mehr funktioniert. Nicht auszudenken.
Mein Zeitplan hat sich durch die unvorhergesehenen Ereignisse beträchtlich verschoben. Ich hoffe, dass ich es heute noch über den Col de la Bonette schaffe, denn der CP1 unterhalb des Gipfels schließt um 1 Uhr heute Nacht. Vielleicht könnte ich dort schlafen und meine Sachen mal waschen. Riecht nämlich alles nicht mehr ganz gut, besonders die Socken.
Weiter taleinwärts mache ich nochmal einen kurzen Supermarktstopp. Ich habe unheimliche Lust auf Yoghurt. Dem muss ich sofort nachgeben, wahrscheinlich braucht mein Körper das gerade. Dann ist das falsopiano, die falsche Ebene, wie der Italiener sagt wieder vorbei und auf traumhaftem Splitt geht es hoch auf den ersten ernsten Berg heute, den Col du Suc. Ich hole Jo und Martin ein. Kurz vor dem höchsten Punkt ist der feine Weg schlagartig vorbei. Große Baumaschinen verlegen den Weg und wir müssen äußerste Vorsicht walten lassen, dass die Arbeiter unsere Anwesenheit merken. Und wieder lange Abfahrt zuletzt lässig über eine Teerstraße und hinein ins Tal des Flusses Tinneé. Mittagessen-Zeit mit Jo.
Es ist heute sehr heiß. Am parallel fließenden Fluss würde ich mich gerne erfrischen, aber davon raten überall große Schilder ab. Meine Rettung ist ein Spielplatz mit einer Wasserzapfstelle. Mit einem Schwengel kurbelt man den Wasserfluss an. Ich wasche meine gesamte Kleidung. Wie ich das technisch mache, um nicht splitterfasernackt dazustehen wird nicht verraten. Eine Weile trocknen die Sachen am Zaun, noch feucht angezogen kühlt mich das bei meiner Weiterfahrt.
In Saint Etienne de Tinneé ein letzter Supermarkt-Stopp mit Feta, Gurke und Datterini-Tomaten, mein griechischer Salat, Yoghurt (ekelhaft, schmecken chemisch und man muss immer mindestens ein Viererpack kaufen), Obst und Kekse für unterwegs.
Es gibt lange nichts mehr und ich muss meine Reserven auffüllen und wohl über den nächsten Berg schleppen. Dort werde ich wohl viel Zeit haben, meine Vorratshaltung zu überdenken. Mein am Samstag in Menton beim Frühstücksbuffet gehamsterte Brot hatte ich erst kürzlich weggeworfen, nachdem ich es zwei Tage über die Berge geschleppt hatte. Auch meine Quinoa-Fertigmahlzeit aus dem Supermarkt landete grad im Müll, auch das hatte ich mitgeschleppt, bis es nicht mehr genießbar war. Und den Apfel, rundherum voller brauner Flecken vom Gerüttel, sollte ich vielleicht auch nicht mehr so lange aufheben.
Auch Wasser trage ich sparsam verwendend immer wieder über die Gipfel, um es beim nächsten Brunnen auszuschütten. Ich treffe Kris W., er muss hier leider aufgrund eines technischen Defekts aufgeben und erzählt, wie kompliziert es ist, hier wieder weg zu kommen. Seine Banane nehme ich dankend an, ich sollte sie noch über drei Berge tragen – nur soviel zur sinnvollen Vorratsplanung *lach* …
Auch Lissa startet nun in Richtung Col de la Bonette, dessen Gipfel auf 2700 m liegt. Später Nachmittag, ich muss mich das erste Mal mit einem Hörbuch motivieren. Weit kann man auf einer geteerten Straße fahren. Die Bergwelt rundherum ist in ein magisches Licht getaucht. Meine Motivation ist seit es dämmert mit dem Tageslicht irgendwie abhanden gekommen. Es scheint mir sehr schwer zu fallen. Ein Blick auf das Höhenprofil erklärt alles: Es hat stellenweise über 15% Steigung. Uffa!
Nun fahre ich auf einem naturbelassenen Weg. Der Aufstieg ist mühsam. Es wird dunkel. Vor mir sehe ich die Radbeleuchtung von Jo, weiter unten auch ein Licht, das muss Lissa sein. Hier muss ich auch wieder runter. Da muss ich besonders aufpassen, um nicht zu stürzen. Hoch über mir sehe ein Licht herumgeistern. Emily kommt vom Gipfel herunter. Ein kurzer Wortwechsel. Kalt soll es sein da oben.
Überraschung. Ich gelange auf eine Teerstraße, die in einer großen Runde um die Gipfelerhebung führt. Als ich auf dem höchsten Punkt bin, ist Jo schon weg. Ich merke auch, warum. Ungeschützt greift der Sturm voll zu. Schnell anziehen und weg von hier.
Die Abfahrt auf dem Aufstiegsweg ist nicht so schlimm, wie befürchtet, aber das was nun kommt, möchte ich niemandem zumuten. Weiter unten sehe ich Jos Lampe irrlichtern. Sie kommt da unten genau so langsam weiter, wie ich hier oben: Der “Weg” gleicht einem Bachbett. Fahren ist unmöglich. Also ist Runter-Schieben angesagt. Und auch dabei muss man hier noch höllisch aufpassen zwischen den Steinen sich mit den Radschuhen nicht umzuknicken und vom Gewicht des Rades nicht umgerissen zu werden. Die Schiebe-Zeit kommt mir ewig vor. Irgendwann ein Auto am Rand geparkt. Wie kommt hier ein Auto hoch. Unvorstellbar. Aber der Untergrund ist etwas besser geworden. Ich versuche es auch auf dem Sattel. Halsbrecherisch überholt mich Lissa.
Endlich da. Im Refuge Hôtel de Bayasse, dem CP1, dem ersten Kontrollpunkt.
Es ist schön warm. Katie und ihre Mutter empfangen uns. Es gibt noch ein warmes Gericht: Quinoa mit Gemüse, so lecker! Im Wohnraum eine (fast) reine Mädelsgruppe. Mein Hirn ist nach den Strapazen der letzten Stunden wohl etwas daneben. Ich erinnere mich an die einfachsten englischen Phrasen und Wörter nicht mehr und gebe wohl ein erbärmliches Bild ab. Was ich aber verstehe, fast die Hälfte der Teilnehmer sind schon ausgestiegen.
Eine heiße wohltuende Dusche und rein in die Federn meines Schlafsackes. Der Wecker vibriert viel zu früh, 5 Uhr. Ich stelle ihn 10 Minuten weiter. Dann packe ich. Meine Berechnungen ergeben, dass ich zum Frühstück in Barcelonnette viel zu früh sein werde. Und dort muss ich bei Öffnungszeit hin, da die nächste Möglichkeit einzukaufen erst bei meinem DNF sein wird, aber das weiß ich im Moment zum Glück noch nicht. So lege ich mich nochmal hin. Einige Leute schnarchen laut, die Luft ist sehr schlecht, ich kann nicht mehr einschlafen und gebe entnervt auf. Wieder mal eine Fehlplanung. Hätte ich den Wecker nicht so früh gestellt …
Section 3 von CP1 nach Bardonnecchia (210 km/ 5300 Hm)
Mittwoch, 11.September 24
Die 20 Kilometer bergab rollen sind bitterkalt. Die Boulangerie in Barcelonnette will ich gar nicht mehr verlassen. Erst nach zwei pain au chocolat und zwei Cappuccinos kann ich mich aufraffen. Duncan hat sich an den Nebentisch gesetzt, wir quatschen etwas. Später werde ich sehen, dass er in Embrun aus dem Rennen aussteigt. Wieder einer von so vielen, die bisher aufgegeben haben.
Die Strecke führt nun auf einer alten Bahntrasse. Der erste Tunnel ist fast 2 Kilometer lang. Ich wusste nicht, ob ich auf dem richtigen Weg bin. Aber hier nochmal zurück … oje!
Dann kommt der riesige türkisfarbene Stausee in den Blick, der Lac de Serre-Ponçon, an dessen anderem Ende ich Embrun erreichen werde. Von hoch oben sehe ich die lange Brücke über den See, die ich vor einigen Jahren beim Three Peaks Bike Race überquert habe auf unserem Weg von Wien nach Barcelona. Aber zunächst geht es noch über zwei Berge und durch lange Abfahrten auf Schotter. Ich treffe auf Marc und Webster. Die Aufstiege sind kurzweilig mit Erfahrungsaustausch, dann trennen sich die Wege wieder – ich bin einfach in den Abfahrten eine Schnecke. Kurz vor Embrun treffen wir uns dann wieder im La Cantine, einem supercoolen Burger-Restaurant in der Nähe von Embrun. Das liebe ich an diesen Events. Man trifft viele Gleichgesinnte, fährt mal mit dem einen oder der anderen ein Stück gemeinsam. Mein Nabendynamo lädt irgendwie nicht richtig, auch das noch. Ich werde erst später merken, dass ich den ganzen Tag das Vorderlicht angelassen habe.
Bevor ich mein Nachtlager wieder aufschlage, muss noch ein langer Aufstiege bewältigt werden. Die Strecke über einen Forstweg hoch über Embrun muss ein touristisches Highlight für Geländewagenfahrer sein. Immer wieder kommen allradbetriebene Fahrzeuge, oft Belgier, im Pulk entgegen, Staub und Abgase nebeln mich ein.
Ich lese mit Schrecken auf einer meiner Medikamenten-Schachteln das Wort complément alimentaire. Nahrungsergänzung? Wie? Ich hatte angenommen, diese Tabletten seien das Antibiotikum. Ich hatte bisher also das Antibiotikum einmal am Tag und das Probiotikum dreimal genommen. Wie blöd kann man denn sein! Hoffentlich hatte das keine Auswirkungen.
Das Skigebiet von Risoul ist erreicht und bis zur Dämmerung schaffe ich es hinunter nach Guillestre. Der Ort ist über einen Hügel angelegt, ich möchte da zwar nicht hinauf, aber ich muss, da ich kaum noch Wasser habe.
Dann radle ich dem Kajak-Wildwasserfluss, Le Guil, entlang. Schade, dass man im Dunkeln nichts sehen kann. Bei Château Queyras mit seinem lila-pink beleuchteten Schloss treffe ich Webster wieder. Er hat ein Challet gebucht, er weiß aber nicht genau, wo die Ortschaft liegt. Ich bin jetzt gegen 23:00 Uhr schon bettreif und suche ab hier einen geeigneten Platz mein Zelt aufzustellen.
Das ist gar nicht so leicht. Rechts unzugänglicher Wald, links fällt die Straße steil zu einem, wie man hört, reißenden Bach ab. Es fängt zudem an zu tröpfeln. Irgendwann zweigt ein steiler Weg ab. Am Wegesrand kann ich eine scheinbar ebene Fläche ausmachen. Ich baue mein Zelt auf und als ich endlich im Schlafsack liege, merke ich, dass es doch nicht so eben ist, wie es den Anschein hat. Ich rutsche immer wieder runter von der Matte. Aber die Müdigkeit und die Geräuschkulisse, Wasserrauschen von Bach und das Ploppen der Regentropfen auf das Zelt wirken einschläfernd.
Donnerstag, 12.September 24
Am Morgen ist es sehr ungemütlich feuchtkalt. Ich stelle den Wecker auf vier. Dann weiter auf fünf und starte dann kurz vor sechs. Das Zelt war klatschnass und auch Ausschütteln hilft nicht wirklich. Der Schlafsack ist außen feucht. Zum Glück regnet es nicht mehr. Ich schütte noch etwas Wasser in meine gefriergetrocknete Mahlzeit von Firepot, Geschmack „Baked Apple Porridge” – lecker. Das Päckchen ist mit mir schon durch das Panceltic Ultra und Lakes ‘n’ Knödel gereist. Wie blöd kann man sein. Im Anstieg Richtung Brunissard wird mir wenigstens warm. Bei einem kleinen Dörfchen gucke ich mal, wo die anderen sind und was mich im nächsten Dorf, in Brunissard erwartet.
Kaffeé und Frühstück? Websters Trackingpunkt scheint dort auf, oje, der Arme wird sicher erst weit nach Mitternacht in der Unterkunft gewesen sein. Vor besagtem Ort empfängt mich sehr starker kalter Wind, der talauswärts fegt und leider ist Brunissard wohl schon im Winterschlaf, es gibt gar nichts. Nächste Möglichkeit sich zu versorgen, wird wohl Briançon sein. Aber ich muss noch über den Ayes Pass. Und um dorthin zu gelangen gibt es noch eine längere Schiebestrecke, wie die Beschreibung der Veranstalter androht.
Ein Schild weist zum Col d’Izoard. Ich muss leider links ab ins Gelände. Ein Stück weiter ein Campingplatz und davor ein Brunnen. Mindestens genug Wasser werde ich haben. Das Rezeptionszelt wird gerade aufgesperrt. Einen Kaffeé könnte ich haben, aber das Brot ist leider reserviert für die Campinggäste. Ein Mann mit Hund holt sich gerade sein Baguette ab, reißt spontan ein Drittel davon ab und gibt es mir. Der Mann vom Empfang schenkt mir noch ein Stück Butter dazu. Der Kaffee ist köstlich und ich sitze im Warmen, auch mein Smartphone kann ich laden.
Dann muss ich weiter. Es wird heftig. Weiterhin starker kalter Wind. Sehr steil geht es auf einem Zick-Zack-Weg hoch. Ich schiebe. Wenn das die angekündigte Schiebestrecke ist, ist das nicht so schlimm. Im Hinterkopf schwant mir aber, dass das nicht alles sein kann. Und wie wahr: Hinter der nächsten Biegung weist ein Wanderschild auf einen schmalen Pfad und zum Ayes-Pass. Knapp zwei Kilometer sollen es sein. Es geht gleich zur Sache, es ist sehr steil und steinig. Schieben geht zwar langsam, aber es geht. Je weiter nach oben ich komme, desto mühsamer wird es. Irgendwann bleibe ich außer Atem stehen, vor mir einige höhere Steinstufen. Wie soll ich mein Rad da drüber wuchten? Die insgesamt 20 Kilo fühlen sich an wie eine Tonne. Tragen wäre vielleicht besser. Ich versuche mich seitlich am Rad so zu positionieren, dass ich es huckepack nehmen kann. Fehlanzeige. Das Rad kippt und ich klappe darunter zusammen. Vielleicht geht es mit einer Tragehilfe? Ich verknote meine lange Regenhose und lege eine Schlinge um den Sattel. Diese Lösung ist auch nicht das Wahre, mein Bike reißt mich fast mit in die Tiefe. Also wie zuvor, schieben, Vorderrad hochwuchten und mit Schulter den Rest nachdrücken.
Irgendwann nach ein paar sehr hohen klettersteigähnlichen Stufen bin ich doch oben. Und hinten runter ist ein alpiner Weg mit tiefem Schotter. Ein fahrbarer Weg ist noch lange nicht in Sicht.
Briançon erreiche ich am späten Vormittag. Das Gewimmel in den Straßen erschlägt mich fast. Die Einsamkeit ist mir doch lieber. Also nur schnell das Frühstück nachholen und weiter. In der Boulangerie gibt es leider keinen Kaffee, aber ein Abkommen mit der daneben liegenden Bar: ich kann meine Pain au chocolat dort verspeisen bei heißem Tee und Latte Macchiato im Warmen. Die wenigen Gäste, die draußen sitzen verfolgen interessiert und verwundert, wie ich inzwischen mein Zelt auspacke und zum Trocknen über mein Rad hänge. Ich sehe inzwischen sicher ähnlich aus wie ein Clochard, wie die Wohnsitzlosen, die mit ihrer Habe durch die französischen Großstädte ziehen. Naja, mindesten fühle ich mich so, auch nachdem ich mich im WC-Bereich etwas frisch gemacht habe. Ein blick auf die Dotwatcher-Seite, immer mehr Leute fallen hinter mir weg. Irgendwann werde ich wohl die Letzte sein.
Der Weiterweg ist cool. Ohne viel Steigung führt die Strecke immer parallel zum Fluss Durance. Sehr schön. Das Gelände wäre wunderbar geeignet für einen netten Sonntagsnachmittags-Singletrail-Ausflug. Sehr unterhaltsam, aber für 20 Kilo nicht so geeignet. Ich verfahre mich, da ich mir nicht vorstellen kann, dass es auf der Asphaltstraße weiter geht und den Geländeweg bergauf wähle.
Dann ist nur noch der Col de l’Echelle zu erklimmen – auf einer gepflegten Teerstraße, ein Übergang von Frankreich nach Italien und Bardonecchia ist erreicht. Ich habe mir von unterwegs ein Appartment gebucht und das steuere ich erst mal an. Ich lasse dort mein immer noch nasses Zelt und den Schlafsack zum Trocknen, esse schnell meine Gefriermahlzeit, die ich hier, welch Luxus, mit heißem Wasser aufbereiten kann. Auch diese Mahlzeit ist im Sommer schon Tausende Kilometer mit mir unterwegs gewesen. Irgendwas mache ich bei meiner Planung wohl falsch und kein Wunder sind die über 20 Kilogramm. Tactical Foodpack, Geschmack Meat Soup. Sehr sehr lecker!
Section 4 von Bardonnecchia zum DNF in Modane, Valfréjus (87 km/ 3100 Hm)
Dann mache ich mich auf den Weg zum Col de Sommeiller. Es ist inzwischen schon später Nachmittag, etwa 16 Uhr. 1800 Höhenmeter auf knapp 30 Kilometer – am späten Abend sollte ich wohl wieder zurück sein. Noch weiß ich jedoch nicht, was auf mich zukommt. Sonst hätte ich mich vermutlich nicht entschieden loszufahren. (Die Alternative wäre jetzt etwas zu schlafen und gegen Mitternacht zum Col zu starten. Das hätte im Nachhinein getrachtet allerdings dazu geführt, dass ich den Berg gar nicht geschafft hätte). Vor mir sind gerade noch zwei Fahrer beim Aufstieg, etwa 9 Kilometer vor mir, Torsten und Petr.
Die ersten 8 Kilometer und etwa 700 Höhenmeter sind feinster Teer. Das nun folgende flache Schotterstück wird allerdings unterbrochen von einer Umleitung über einen Wanderweg, erst steil runter, dann zusätzliche Höhenmeter hoch. Beim Stausee kommt mir eine vermummte Radfahrerin entgegen: Leona. Oben absolut winterliche Bedingungen, so etwa 3 Stunden werde ich wohl für den Anstieg brauchen. Mir scheint das viel und motiviert fahre ich weiter. Der Schotterweg steigt nun kräftig an, ist aber gut fahrbar. Es dämmert. Noch aber kann ich die Aussicht auf die faszinierende Bergwelt genießen. Glockengebimmel gibt den passenden Rahmen, Kühe gibt es hier oben auf fast 2600 also auch noch. Es wirft mich vom Rad … Upps! Große Steine zeugen davon, dass sich der Untergrund schlagartig geändert hat. Zum Teil recht unwegsam wechsle ich zwischen Schieben und Fahren. Dann irgendwann ist fast nur noch Schieben angesagt. Ein argwöhnischer Blick auf mein GPS-Gerät, es sind noch fast sechs Kilometer und nur noch etwa 400 Hm bis zum höchsten Punkt. Ich schalte meine Lupine-Helmlampe zu, da die nabendynamobetriebene Vorderlampe bei dieser „Geschwindigkeit“ zu wenig helles Licht gibt. Die dicke Lupine-Batterie dürfte noch genügend geladen sein – hoffentlich.
Waren die Temperaturen unter der Waldgrenze recht angenehm, so ist es hier bitterkalt. Der starke Wind tut sein Übriges, um den Körper auszukühlen. Ich ziehe Regenhose und -jacke an. Über die kurzen Radhandschuhe streife ich die dünnen Merinohandschuhe und darüber noch welche mit langen Fingern. Recht dick ist das alles zusammen aber nicht und der kleine Finger fühlt sich schon kalt und taub an. Wie wird das weiter oben werden und auf der Abfahrt? Werden meine klammen Finger es noch schaffen zu bremsen? Meine Skinfit Primaloft Fäustlinge liegen gut in der Schublade zuhause. Sie sind beim Packen dem Minimierungsversuch zum Opfer gefallen.
Durst! Ich bleibe wieder einmal stehen, um einen Schluck aus dem Trinkrucksack zu nehmen. Aber was ist das? Nichts geht mehr. Schon leer? Nein, im Schein der Helmlampe sehe ich das Eis im Schlauch, auch die Trinkflasche ist eingefroren. Ein Blick auf meine Garmin … Minus 6°C!!
Warum kommen die beiden vor mir nicht entgegen? Mir schwant Böses – das Terrain wird wohl nicht einfacher werden. Endlich ein Licht vor mir. Torsten. Ich klage ihm mein Leid, dass ich in der letzten halben Stunde unzählige Male beschlossen habe umzukehren, ich sei doch nicht lebensmüde. Es wird zwar nicht besser auf dem Weg nach oben, aber mir fehlen doch nur noch etwa 2 Kilometer. Wenn ich es bis hierhergeschafft hätte, soll ich doch das bisschen noch hochwandern. Mit einem Bein am Boden holpert Torsten -er hat warme Fäustlinge sehe ich neidisch- weiter abwärts. und ich ein paar Meter mit leicht erhöhter Motivation schiebe weiter, bis zur nächsten Kurve. Soll ich doch zurück? Zwei ICHs disputieren. Sofort umkehren!! Nein, weiter gehen, mir wird das sonst leidtun, so kurz vor dem Gipfel klein beigegeben zu haben. Petr kommt entgegen. Noch etwa eine halbe Stunde und ich hätte es geschafft. ABER: Dann bin ich oben und dann? An den Rückweg sollte ich auch denken. Weiter hike & bike? Noch lange in dieser lebensfeindlichen Höhe? Ich wage gar nicht daran zu denken, was alles passieren könnte. Das ganze Unternehmen – Leichtsinn pur!!
Wieder mal muss ich über einen Schuttkegel steigen. Erdrutschmaterial? Ich kann es nicht gut erkennen, nur, dass der Fahrweg immer wieder unterbrochen ist. Dann nur noch ein paar Meter und ich bin oben. Hier stürmt es gewaltig. Raus aus den Handschuhen und das Pflicht-Foto der Tafel mit den vielen Aufklebern schießen. Das ist wohl ein Fehler, ich habe in Sekunden kein Gefühl mehr in den Fingern. Ich drehe um und bewege mich abwärts. Meine warme Windjacke kann ich erst etwas weiter unten anziehen im Schutz eines großen Steines. Den Reißverschluss bekomme ich kaum zu mit meinen eingefrorenen Fingern. Wie konnte ich mich bloß in so eine Situation bringen? Jetzt nichts wie weg hier!
Ich senke meine Sattelstütze ab und versuche so gut es geht über den unwegsamen Pfad abwärtszurollen. Es geht stückeweise besser als gedacht, manchmal genügt es mit einem Fuß auf dem Boden das Gleichgewicht zu halten, dann wieder muss ich runter vom Rad und schieben. Es ist anstrengend, aber das ist auch gut, so ist mir nicht so unheimlich kalt und ich werde auch nicht schläfrig.
Ich bin schon fast wieder auf besserem Untergrund, da sehe ich ein Licht. Eine Fata Morgana? Die gibt es doch nur bei großer Hitze … Es ist Webster. Inzwischen treibt der Sturm dicke Flocken vor sich her. Und der Schnee bleibt schon liegen auf dem Weg. Ich halte und spreche kurz mit Webster. Informiere ihn, dass hier die Schiebestrecke beginnt und dass es eisigkalt ist. Ich wünsche ihm viel Glück. Er stapft weiter, ich rolle weiter. Inständig hoffe ich, dass Webster vernünftig ist und bei diesem Schneetreiben nicht weiter geht. Ich werde weiter unten Katie, der Veranstalterin schreiben, sie solle ihn in dieser Nacht im Auge behalten. Auch Hermann informiere ich, dass ich bei der Waldgrenze sei und nun nur noch leichtes Gelände vor mir liegt. Gegen ein Uhr bin ich in meiner Unterkunft. Eine heiße Dusche belebt meine eingefrorenen Körperteile. Ich sinke ins Bett und sofort in Tiefschlaf. Bei Öffnung der Boulangerie wollte ich vor Ort sein, das heißt ich muss nicht so früh raus.
Freitag, 13.September 24 – schlechtes Omen????
Um 7 klopft es Sturm. Eine aufgeregte Hotelmanagerin steht vor der Tür. Weil ich verbotenerweise das Rad mit in den Wohnbereich genommen habe? Nein, sie wollte nur wissen, ob ich „safe“, wohlbehalten im Zimmer sei. Denn es werde nach mir gesucht. Langsam verstehe ich. Meine Tracker Position ist noch oben am Berg. Mein Smartphone ist aus und niemand kann mich erreichen. Große Aufregung bei Veranstaltern und Hermann, die sich alle Sorgen machen und kurz davor sind, eine Rettungsaktion zu starten.
Im Nachhinein betrachtet – eine Rettungsaktion wäre wohl zu spät gekommen, hätte ich mich dort oben verletzt. Ausgekühlt ist man schnell und bei vermutlich mehr als 6° unter Null droht wohl der Erfrierungstod. Wie der kanadischen Frau, die am selben Wochenende in der Nähe meines Heimatortes bei einer harmlosen Wanderung erfroren ist.
Webster war übrigens vernünftig genug nicht mehr weiterzugehen und gelangte wohlbehalten ins Tal.
Am Morgen ist Bardonecchia wie ausgestorben, die Sommersaison ist vorbei und fast alles zu. Kein Bäcker, kein kleiner Shop im Ort. Ich finde eine Boulangerie, die aber keinen Kaffee hat und nur süße Sachen. Heute sollte ich nicht so schnell eine weitere Versorgungsmöglichkeit erreichen.
Der alte Militärweg hinauf zum Colle Rho ist nicht gepflegt. Sehr holprig, steinig und ziemlich steil geht es bergauf. Für mich und mein schwer bepacktes Rad bedeutet das fast 6 Kilometer hochschieben. Die Gipfel rundum sind in eisige Nebel gehüllt, die Sonne kommt zwar ab und zu durch, meine Wasserreserve ist allerdings schon wieder zu Eis geworden. Zudem bringt der stramme Wind immer mal wieder einen Schub Schneeflocken.
Meine Motivation schwindet. Alle paar Minuten suche ich einen Grund stehen zu bleiben. Foto. Was essen. Auf Followmychallenge schauen, wo die anderen noch Verbliebenen sind. Mit Hermann telefonieren, ob es nicht gescheiter sei, abzubrechen. Wetterbericht konsultieren. Meine Lage bemitleiden. Der Gründe anzuhalten, gibt es viele.
Dann bin ich auf Km 67, hier sollte das hike & bike beginnen. Nanu? Das begann bei mir ja schon 4 Kilometer früher … Aber hier geht der Militärweg in einen schmalen Wanderweg über. Ein Schild informiert mich, dass ich auf dem Pian dei Morti bin. Hallelujah. So weit ist es schon, auf der Hochfläche der Toten. Ein Fingerzeig? Nein, in diese Liste möchte ich noch nicht aufgenommen werden. Hier ist der Untergrund ganz gut schiebbar. Soll ich doch noch ein bisschen weiter gehen? Falls das Gelände sich so entwickeln würde, wie beim Col de Ayes zwei Tage zuvor, das würde ich körperlich nicht mehr schaffen: mein Rad über Steinstufen hochheben. Wieder muss ich mich gegen eine Sturmböe stemmen. Jetzt ist es aber genug! Ich wuchte mein Rad um 180° in die Richtung, aus der ich gekommen bin. Jetzt umdrehen und ich käme von Bardonecchia vermutlich ganz unkompliziert mit dem Zug weg, auf der Gegenseite runter und ich wäre schon wieder in Frankreich.
Da! Eine orange gewandete Gestalt. Torsten. Hat er mich auf dem Sommeiller schon zum Weitergehen überredet, so schlägt er nun in dieselbe Kerbe: Gabi, du bist jetzt ja schon fast oben, nur noch weniger als 2 Kilometer bis auf die Passhöhe. Überredet, ich schiebe weiter, nachdem wir uns gegenseitig beim Fotografieren fotografiert haben. Ähnlich wie beim Witz „Treffen sich zwei Jäger. Beide tot!“ – treffen sich zwei Mountainbiker bei der AlpsDivide … naja, noch nicht ganz schachmatt, aber beide haben auf dem Beweisfoto das Smartphone vor dem Gesicht … Im Ernst der Situation muss ich doch ein wenig lächeln.
Den Pass kann ich vor mir schon erkennen. Zwei E-Biker sind vor uns. Und die schieben. Warum wohl? Der letzte halbe Kilometer verlangt alles ab. Der Schneematsch ist geschmolzen und hat einen schmalen äußerst steilen Schlammpfad hinterlassen. Unter meinen Schuhen habe ich in Kürze 10 Zentimeter-Stöckel. Um die Reifen wickelt sich die Masse und macht das Rad zentnerschwer.
Die Fortbewegung erfolgt in Zeitlupentempo: Rad einen Viertel-Meter vorschieben, Bremsen drücken, einen Schritt nach vorne machen, einen halben Schritt auf der seifigen Masse zurückrutschen. Alles von vorne. Ein rascher Blick zurück, Torsten ist auch nicht schneller.
Ich bin fix und fertig, als ich endlich oben bin. Hier ist der Sturm, der ungebremst von Norden durch das Tal hochweht gewaltig. Schnell alles anziehen, was ich habe und versuchen das Rad notdürftig vom Schlamm zu befreien. Sogar auf dem Bremssattel hat sich ein Haufen Matsch angehäuft. Dieser ist jedoch stocksteif gefroren und lässt sich leicht wegschnippen. Das tiefgefrorene Material auf den Reifen fällt beim Runterschieben weg.
Runterschieben. Das Gelände ist hier hochalpin. Höchste Vorsicht ist geboten, damit man sich nicht verletzt oder das schwere Bike irgendwo runterkugelt. Eine Windböe erwischt mich seitlich, mir wird das Bike aus der Hand gerissen und die Hinterseite wird gegen einen Stein geschleudert. Schock. Ein Kontrollblick, ob noch alles heil ist. Anscheinend. Nur die Seitentasche, meine Tailfin Panier Bag, hat einen Riss abgekommen. Schade!
Ich mache mich weiter an den Abstieg. Irgendwo ganz weit unten kann ich wieder fahren. Ich komme vorbei an Almen und dann am Skidorf Valfrejus. Wie ausgestorben natürlich.
Weiter unten im Tal dann ein Supermarkt im Örtchen Modane. Ich friere so von der Abfahrt und bin ausgehungert. Ich verplempere viel Zeit mit Überlegungen, was nun tun. Warte auf Torsten, um zu erfahren, was er vorhat. Aber ich treffe ihn nicht mehr. Ein Blick auf meine Skizzen zeigt, dass ich in den nächsten Tagen immer wieder lange auf über 2000 m Meereshöhe unterwegs sein würde. Die WhatsApp-Nachricht von Katie, dass es einige Ausweichstrecken gebe, geht irgendwie an mir vorbei. Verfroren wie ich bin, möchte ich das nicht noch weitere zwei Tage haben.
Ich gebe meinem Vernunft-Ich nach: Ab ins nächste Hotel und unter die heiße Dusche!
Ich verschwende an den nächsten Tagen zwar (fast) keinen Gedanken mehr, wie „hätte ich doch … wäre ich …“ , aber die Info, dass Torsten einen Berg weiter ausgestiegen sei und Leona auch, hat mich doch darin bestärkt, richtig gehandelt zu haben.
Stolz bin ich doch, so weit gekommen zu sein. Von an die 100 Starterinnen und Startern haben sehr viele das Rennen vorzeitig beendet. Ganz grob gesagt, pro 100 Kilometer jeweils ein Ausfall von 10. Und ich bin immerhin bis km 700 gekommen und habe über 20.000 Höhenmeter zurückgelegt.
Samstag, 14.September 24
Heimfahrt:
Am nächsten Tag fahre ich über den wunderschönen Mont Cenisio runter ins Susa-Tal. Mein Plan die 600 Kilometer über den Comer See, Maloja Pass und das Vinschgau heim zu radeln hat sich allerdings in Susa beim Anblick des wartenden Zuges in Luft aufgelöst. Nach Mitternacht bin ich so wieder zuhause.
Eine Rechnung habe ich offen mit der Alps Divide, jetzt nach meinem ersten DNF.
Werde ich dort nochmal starten? Das Rennen ist durch die vielen Höhenmeter sehr hart, aber machbar. Die Gegenden auf jeden Fall wunderschön. Aber das Wetter muss mitspielen.
Mal sehen …